Sonntag, 20. Februar 2011

Rebellion am anderen Ende der Welt

Vor 100 Jahren endete auf der Karolineninsel Ponape der Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in der Südsee

Noch bis vor gut 100 Jahren kannte kaum ein deutscher die Insel Ponape, die seit 1990 Pohnpei heißt. Erst als sich der Stamm der Sokehs vor 100 Jahren gegen die deutsche Kolonialverwaltung erhob, rückte die Karolineninsel in das Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit. Am 22. Februar 1911 endete der Aufstand. Damit war zugleich die größte deutsche Militäraktion in der Südsee beendet.

Um ein zusammenhängendes deutsches Kolonialgebiet im Pazifik zu schaffen, kaufte die deutsche Regierung Spanien Anfang 1899 infolge des Us-Amerikanisch-Spanischen Krieges 1998 die Marianen und die Karolinen einschließlich Ponape für 17 Millionen Mark ab. Dank der umsichtigen Politik des Bezirkshauptmanns Albert Hahl verhielten sich die sonst eher widerspenstigen Ponapesen friedlich und kooperativ. Die deutsche Verwaltung vermied es, in die Belange der einheimischen Bevölkerung einzugreifen, so daß sie zunächst kaum Auswirkungen auf deren Alltagsleben hatte.

Dies änderte sich im Jahre 1907, als das Reichskolonialamt anordnete, daß die deutschen Auslandsbesitzungen zukünftig ihren Etat weitgehend selbst erwirtschaften sollten, um von Reichszuschüssen unabhängig zu werden. Das feudalistische Lehenssystem auf Ponape galt als Grund für die geringe Produktivität der Insel.

Deshalb wurde eine Bodenreform angeordnet, die allerdings nur schleppend voranging. Außerdem übten die Ponapesen gegen ihre Beschäftigung im Wegebau, mit dem die unwirtliche Insel erschlossen werden sollte, passiven Widerstand.

Am 17. Oktober 1910 kam es auf dem kleinen, nur durch einen Meeresarm von der Hauptinsel getrennten Eiland Dschokadsch zu einem folgenschweren Zwischenfall. Nachdem der seit Ende 1909 amtierende Bezirkshauptmann Gustav Böder einem jungen Sokeh, der sich bei Straßenarbeiten den Anweisungen des deutschen Aufsehers widersetzt hatte, zehn Stockhiebe hatte verabreichen lassen, legten die Sokehs die Arbeit nieder. Als Boeder von den Ereignissen hörte, ließ er sich nichts Böses ahnend und deshalb unbewaffnet nach Dschokadsch rudern. Er und seine Begleiter wurden niedergemetzelt, ihre Leichen geschändet und ins Meer geworfen.

Als ranghöchster Vertreter des Reiches übernahm der Regierungsarzt Max Girschner das Kommando und ließ Ponapes damalige Hauptstadt Kolonia zur Verteidigung herrichten. Es ge- lang ihm, durch geschickte Verhandlungen die vier anderen ponapesischen Stämme auf seine Seite zu bringen. Die Sokehs allerdings zogen sich auf die schwer zugänglichen Felskuppen in den Bergen zurück und verschanzten sich. Das Reichskolonialamt in Berlin erfuhr erst Ende November von den Vorgängen in der Südseekolonie, nachdem ein Postdampfer die Insel angelaufen hatte. Bis Anfang Januar 1911 trafen fünf Kriegsschiffe zur Durchführung einer Strafexpedition ein.

Der deutsche Angriff begann am 13. Januar mit einem konzentrierten Feuer aus den Schiffsgeschützen. Anschließend konnten die Landungstruppen ohne eigene Verluste einige der Aufständischen gefangen nehmen, aber dem Gros gelang es, sich auf die Hauptinsel abzusetzen. In den darauffolgenden Wochen verfolgten die Deutschen ihre Gegner, die immer wie- der überraschend aus dem Hinterhalt angriffen, über die ganze Insel. Durch die ständige Hatz und den Hun- ger zermürbt, legten immer mehr Rebellen die Waffen nieder und am 22. Februar ergaben sich die letzten Sokehs.

Obwohl die Gefechte auf bei- den Seiten nur geringe Verluste gefordert hatten, wurde in der deutschen Öffentlichkeit der Ruf nach Vergeltung laut. 36 Sokehs, die an der Tötung Boeders und seiner Begleiter beteiligt gewesen waren, wurden in Kolonia vor Gericht gestellt. Während der Verhandlung wurden auch entlastende Momente gewürdigt und den Angeklagten zugestanden, nicht aus niederen Motiven getötet zu haben.

Dennoch sprach das Gericht 17 Todesurteile, wovon allerdings nur 15 durch Erschießen vollstreckt wurden. Zwölf Sokehs wurden zu einer Freiheitsstrafe und Zwangsarbeit verurteilt, sieben freigesprochen. Um weiteren Aufsässigkeiten vorzubeugen, wurden die rund 450 Sokehs auf die 2000 Kilometer entfernten Palau-Inseln umgesiedelt.

Die Verbannung währte allerdings nur kurz, denn im Oktober 1914 besetzten japanische Truppen die deutschen Besitzungen in der Südsee. Die Sokehs, im Exil an Nahrungsmangel und Krankheiten gestorben waren, konnten in ihre Heimat Ponape zurückkehren.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Insel des öfteren vom US-Militär wegen seiner japanischen Stellungen bombardiert oder beschossen. Nach Kriegsende wurde Ponape Teil des Treuhandgebietes Pazifische Inseln der USA. 1986 erlangte die Insel nach 100 Jahren Fremdherrschaft als Hauptinsel der Föderierten Staaten von Mikronesien die Unabhängigkeit.

Jan Heitmann
Preußische Allgemeine Zeitung 07/11


Samstag, 19. Februar 2011

Zusammenhalt nach doppelter Vertreibung

Vor 100 Jahren gründeten die 1731/32 aus Salzburg nach Ostpreußen ausgewanderten Protestanten den Salzburger Verein

Salzburger Kirche in Gumbinnen (Ostpreußen) heute
Der „Salzburger Verein e.V.“ will sein 100-jähriges Bestehen Ende Mai im Rahmen eines Stadtfestes seines Gründungsortes Gumbinnen und im September in Bielefeld, dem Sitz des Vereins seit der Wiedergründung 1954, denkwürdig und feierlich zugleich begehen. Die Vorgeschichte des Vereins reicht bis in das 18. Jahrhundert zurück.

Im Jahre 1740 wurde in Gumbinnen als dem zentralen Ort der Ansiedlung der evangelischen Salzburger in Preußisch-Litauen das „Salzburger Hospital“ zur Betreuung von Alten, Siechen und Waisen errichtet. Daraus entstand alsbald als eigenständige, karitative Einrichtung die noch heute bestehende und mittlerweile in Gumbinnen wieder tätige Stiftung „Salzburger Anstalt Gumbinnen“.

Die 1752 erstmals gebaute und bald erweiterte „Salzburger Kirche“ war dazu bestimmt, dem evangelischen Glauben und freien christlichen Bekenntnis in der neuen Heimat Ostpreußen ein Gotteshaus zu geben. Dieses erste „Kirchlein“ wurde 1838 wegen Baufälligkeit abgetragen und 1840 durch einen Neubau nach einem Entwurf Karl Friedrich Schinkels ersetzt.

In der Generation der Salzburger vor dem Ersten Weltkrieg wurde offensichtlich, daß das Gefühl der Zusammengehörigkeit deutlich rückläufig war. Daraufhin trat ein Komitee von Persönlichkeiten Salzburgischer Nachkommen zusammen. Man lud folgerichtig alle preußischen Salzburger zum 22. Februar 1911 zur allerersten Gründung eines ostpreußischen „Salzburgervereins“ nach Gumbinnen ein.

Der Verein zählte in Ostpreußen bis zu 1800 Mitglieder in elf Kreisgruppen und außerhalb Ostpreußens auch Gruppen in Berlin und Dresden. Er erfreute sich eines regen Vereinslebens mit Salzburger Nachkommen in der achten bis zehnten Generation, wenn auch bereits die 1914 unternommene erste Fahrt einer Delegation des Vereins nach Salzburg in die Wirren des beginnenden Weltkrieges geriet und abgebrochen werden mußte.

Zur Unterstützung der Anliegen der Familienforschung war der Verein ab 1925 personell verknüpft mit dem „Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen“. Auch ab 1925 wurden erholungsbedürftige Kinder aus dem Land Salzburg von den Vereinsmitgliedern nach Ostpreußen eingeladen.

Ein herausragendes Ereignis im Verein war die 200-Jahrfeier der Einwanderung nach Ostpreußen, die im Juni 1932 in Gumbinnen mit Umzügen, Festspielen, einem Festgottesdienst und vielen Ansprachen sehr festlich und mit vielen Ehrengästen gefeiert wurde. In der Folge konnte noch im Jubiläumsjahr die Renovierung der Anstaltsgebäude und der Salzburger Kirche – Glasfenster über dem Kanzelaltar und Heizung – stattfinden.

Dank starker Persönlichkeiten im Vorstand wurde die Arbeit des Vereins durch das NS-Regime nicht wesentlich beeinträchtigt. Allerdings wurde die genealogische Auskunftsstelle erweitert und das Vereinsblatt erschien nur noch unregelmäßig, bis „Der Salzburger“ im April 1939 mit der Nr. 73 ganz eingestellt wurde. Bei einem Luftangriff im August 1944 wurde die wichtige Auskunftsstelle des Vereins total zerstört, uneretzbares Material für die Familienforschung ging verloren. Schließlich nahm der Zweite Weltkrieg den ehemaligen Salzburgern in Ostpreußen ein zweites Mal ihre Heimat.

Nachdem die Salzburger Landesregierung beschlossen hatte, eine entsprechende Patenschaft zu übernehmen, wurde in der Nachkriegszeit die Wiederbegründung des Vereins in die Wege geleitet. Sie wurde in einem Festakt am 15. Mai 1954 verkündet. Am folgenden Tag wurde der „Salzburger Verein e.V.“ in Bielefeld neu gegründet. Ab Ostern 1963 lebte das Mitteilungsblatt „Der Salzburger“ wieder auf und erscheint seitdem vierteljährlich. Im darauffolgenden Jahr begann die Gründung von Landesgruppen. Es finden regelmäßige Jahrestreffen statt und alle zwei Jahre trifft mansich im Salzburger Land. Die kleine Wiedervereinigung von 1990 hat dann auch die Einbeziehung der Salzburger Emigranten von 1731/32 in Mitteldeutschland ermöglicht.
Von Anbeginn der Neugründung bestand der Wunsch, auchdie Tradition der alten „Salzburger Anstalt Gumbinnen“ in der neuen Patenstadt Bielefeld fortzuführen. Durch unermüdliches Bemühen verdienstvoller Mitglieder des Salzburger Vereins konnte im Jahre 1976 das „Wohnstift Salzburg“ in Bielefeld feierlich eröffnet werden. Damals entstanden ein Altenkrankenhaus und ein Altenheim – inzwischen ausgiebig modernisiert und komfortabel erweitert.

In Gumbinnen wurde auf Initiative der Stiftung „Wohnstift Salz- burg e.V.“, der Förderprojekte im Salzburger Verein und der Lan- desregierung Salzburg die Stiftung „Salzburger Anstalt Gumbinnen“ erneut ins Leben gerufen. Mit dem Wiederaufbau der weitgehend zerstörten Salzburger Kirche, die 1995 am Reformationstag eingeweiht werden konnte, und dem Aufbau des Diakoniezentrums „Haus Salzburg“ sind beispielgebende Aufbauwerke im Königs- berger Gebiet gelungen.

Der „Salzburger Verein e.V.“ präsentiert sich heute in mehreren Museen, so im Schloss Goldegg, im Deutschordensschloss Ellingen, im Preußenmuseum Minden und im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg. Gute und freundschaftliche Kontakte hält der Verein mit dem Land Salzburg sowie den Schwestervereinen im US-Bundesstaat Georgia und den Niederlanden, der „Georgia Salz- burger Society“ und der Stiftung „Salzburger Emigranten Nederland“.

Neben der genealogischen Auskunftsstelle nimmt die sogenante Marschrouten-Forschung, sprich die Erforschung der Route, welche die Vorfahren der Vereinsmitglieder einst von Salzburg nach Ostpreußen genommen haben, heute einen bedeutenden wissenschaftlichen Stellenwert ein. Eine nachhaltige, enge Zusammenarbeit mit den Landesarchiven und wissenschaftlichen Bibliotheken sowie den Franckeschen Stiftungen zu Halle bereichern die Arbeit im Verein.

Die wieder gewonnenen Freiheiten im gegenwärtigen Europa ermöglichen nun allen eine „Spurensuche“, mit Überwindung der „Stolpersteine“ in der gemeinsam erlebten Geschichte und mit Freu- de an einer friedlich vereinten europäischen Zukunft.

Eckhard Schlemminger


Quelle: Preußische Allgemeine Zeitung 07/11

Freitag, 18. Februar 2011

Polnische Übergriffe in Görlitz – Politik schweigt

Görlizter Oberbürgermeister Paulick und Statthalter der polnischen Besatzer der preußisch-schlesischen Görlitzer Oberstadt Gronitsch: Kein Platz für Radikalismus und so weiter und so fort

Nehmen wir an, eine Truppe deutsch-nationalistisch gesonnener Jungmannen hätten im Sturmn die Alktstadtbrücke genommen und wäre dann prügelnd ein paar hundert Meter auf polnisches Hoheitsgebiet vorgerückt. Welcher Aufschrei wäre durch die Welt gegangen?“ Diese Frage stellte Andreas Neumann-Nochten, ein 1960 geborener Theologe, der 1999 aus Norddeutschland nach Görlitz gezogen ist und dort als Chorleiter, Publizist und Karikaturist tätig ist. Die Antwort gibt er selbst. „Wir dürfen annehmen, daß ein höchster Regierungsvertreter Polens noch in der Nacht in Görlitz den Schauplatz des Massakers in Augenschein genommen hätte, daß Bundeskanzlerin und Außenminister aus entgegengesetzter Richtung ebenfalls dem Ort des Grauens entgegengeeilt wären und daß nicht nur die polnische Presse das deutsche Unwesen auf allen Titelseiten genüßlich in Wort und Bild angeprangert hätte.“ In einem ganzseitigen Beitrag in der „Sächsischen Zeitung“ setzte sich Neumann-Nochten mit Prügelattacken in der Silvesternacht durch eine Horde polnischer Schläger auf der deutschen Seite der Neiße auseinander und beleuchtete dabei auch, wie die Grenzziehung 1945 und ihre gedankliche Vorbereitung bis heute nachwirken.

Was war in der letzten Silvesternacht geschehen? Nach einem Bericht der „Sächsischen Zeitung“ versammelten sich – wie in den Vorjahren – Hunderte an der Görlitzer Altstadtbrücke, um das neue Jahr zu begrüßen. Kurz nach Mitternacht begannen polnische Jugendliche, deutsche Anwesende zu schubsen oder ihnen Raketen aus Rucksäcken zu stehlen. Schnell eskalierte das Geschehen. Eine Gruppe von etwa 30 Polen begann zu schlagen, zu treten und zu prügeln. Augenzeugen sprechen auch von Messerattacken und dem Gebrauch von Schlagringen. Die Polen trieben die Deutschen einige hundert Meter vor sich her über die Neißstraße bis zum Untermarkt. Mindestens zehn Deutsche wurden verletzt und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Insbesondere Mobiltelefone wurden den Opfern geraubt oder an Hauswänden zerschlagen.
Man muß wohl von einer schweren Polizeipanne sprechen. Obwohl auch schon 2008 und 2009 laut Zeitungsbericht Polen geprügelt hatten, war keine Polizei vor Ort. Diese sei erst zirka 40 Minuten nach Beginn der Vorfälle erschienen. Täter konnte sie nicht mehr feststellen, da diese bei ihrem Auftauchen über die Bracke auf polnisches Gebiet flüchteten. Es besteht nach Darstellung der „Sächsischen Zeitung“ kein Zweifel
daran, daß die polnischen Schläger die Silvesterfeier sehr gezielt genutzt haben, um gegen Görlitzer und ihre Gäste vorzugehen. In dem Blatt wird außerdem daran erinnert, daß sich Übergriffe von Polen in Görlitz häufen, so bei Altstadtfesten oder im Sommer nach 22 Uhr im Stadtpark. Ein Mord an einem Rentner in seiner Wohnung in der Innenstadt Anfang Januar, tatverdächtig sind drei Polen, ließ die Angst inzwischen weiter ansteigen.

Dabei kriselte es seit Öffnung der Grenze schon lange. Die Zeitung verwies darauf, daß allein im ersten Halbjahr 2010 fast 100 Autos gestohlen wurden und unzählige andere Diebstähle und Einbrüche zu beklagen sind. Attacken auf Deutsche gab es auch auf polnischem Gebiet. Im Bewußtsein ist noch, wie Görlitzer Kinder aus einem Freibad auf der polnischen Seite geprügelt und deutsche Gäste bei einer Feier im „Dom Kultury“ attackiert wurden.

Was ist zu tun? Darüber wurde den ganzen Januar über öffentlich diskutiert. Bürgermeister Michael Wieler, Leiter der deutsch-polnischen Koordinierungskommission, gesteht zu, daß bei den Görlitzer Bürgern ein Angstszenario entstanden ist. Die Wirkung des von ihm geleiteten Rates sei bisher begrenzt gewesen. Nach seiner Meinung sei der politische Wille erforderlich, um zu klären, welche Gewaltpotenziale es auf beiden Seiten gibt. Das sei aber ein Politikum, weil damit eingestanden würde, dass es ein grenzüberschreitendes Problem gibt.

Der Görlitzer Stadtrat Detlef Rauh bezweifelt in einem Gastbeitrag der genannten Zeitung, daß sich nach dem letzten Vorfall etwas ändert. Man würde weiter nach dem Motto verfahren: „Was nicht sein kann, das nicht sein darf.“ Man finde unter den Politikern kaum noch einen, der sich traut, auch einmal unbequeme Tatsachen öffentlich anzusprechen.

Diskutiert wird auch, wie weit denn eine Versöhnung zwischen Deutschen und Polen schon vorangekommen ist. Der Theologe Neumann-Nochten sieht viel Heuchelei und Wahrnehmungsschwäche bei denen, die durch die Vorgänge überrascht sind. Bei der Bewerbung beider Städte rechts und links der Neiße als Kulturhauptstadt Europas 2010 sei vieles schöngeredet worden. Begriffe wie Schwester-, Doppel- oder Zwillingsstadt seien verwendet worden, obwohl das deutsch-polnische Miteinander gerade erst begonnen habe. Man würde auch nie erörtern, wie die andere (polnische) Seite dazu stehe. Kulturelle Zusammenarbeit und intensives menschliches Aufeinanderzugehen sei auf die Kreise einer kleinen intellektuellen Elite beschränkt. Er erinnert daran, daß die deutsch-polnische Grenze eine erzwungene Sprachgrenze ist und der 1945 erzwungene Wechsel des Lebensraumes in diesem Ausmaß und in dieser Art und Weise einmalig ist. Nirgendwo werde die Unnatürlichkeit der Grenze sichtbarer als in der größten geteilten Stadt. Die deutsche Vergangenheit anzunehmen, wie dies in anderen Teilen Schlesiens Brauch sei, funktioniere in Görlitz nicht. Dies äußere sich schon in der Ortsbezeichnung (die Görlitzer Oststadt heißt nur noch Zgorzelec).

Wer meint, die jüngsten Feindseligkeiten nährten sich noch immer aus der Wunde, die 1939 hinterlassen hat, nimmt nach Meumann-Nochten nur einen kleinen Teil der historischen Entwicklung wahr. Er verweist auf die polnische Westforschung nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Suche nach slawischer Kultur, die nach 1945 auch dazu diente, die neu hinzugewonnenen Gebiete zu legitimieren. Die 2004 eingeweihte Altstadtbrücke sollte als verbindendes Symbol gelten.

Allerdings war schon bei der Einweihungsfeier deutlich, daß man dies nur auf deutscher Seite so sah. Hatten sich am westlichen Ufer rund 1000 Schaulustige eingefunden, waren es auf der polnischen Seite keine hundert, mehrheitlich sogar deutscher Nationalität. Das mangelnde Interesse bei den Polen dürfte symptomatisch sein für ihr Gesamtverhalten im Verständigungsprozeß. Die Deutschen drängen und verbiegen sich, aus Polen kommt kaum etwas. Das Schlesische Museum zu Görlitz gibt hierzu ein Beispiel. Während hier zwei polnische Vertreter im Stiftungsrat sitzen, gibt es in polnischen Museen keinen Deutschen. Als Fazit läßt sich festhalten: Die deutsche Politik lässt deutsche Bürger wieder einmal im Stich. Wenn es um Polen oder Tschechien und Slowaken geht, nimmt die Bundesregierung ihre Obhutspflicht für Deutsche seit Jahrzehnten nicht wahr. Kein Wunder, daß Kanzlerin Merkel die beliebteste ausländische Politikerin in Polen ist. Ganz anders handelt dagegen Polen, das wiederholt interveniert hat, wenn es um die Belange von polnischstämmigen Bürgern in Litauen, Weißrußland oder Deutschland geht.

Rudi Pawelka
Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien

Quelle: Preußische Allgemeine Zeitung 07/11


Donnerstag, 17. Februar 2011

Luther als Sprachschöpfer

Von Dieter Burkert

Eine religiös und politisch bewegte Zeit und deren Hauptvertreter verändern nicht nur das Denken, sondern auch die Sprache. Überkommende Wortformen werden inhaltlich umgewidmet, neue Spracheinheiten geschaffen. Über Martin Luther schreibt Werner Besch in seiner Sprachgeschichte: „Man kann vor Luther schlechterdings nicht von neuhochdeutscher Schriftsprache oder von neuhoch- deutschem Sprachtypus reden; denn erst durch ihn entscheidet es sich, welche Gemeinsprache (...) zum Zuge kommt.“

„Ich rede nach der Sechsischen cantzley“ 

Von Luther selbst wissen wir, woran er anknüpft: „Ich rede nach der Sechsischen cantzley“ (Tisch- reden, Auszug 1532, Nr. 2758 b). Luther war, von seinem Eltern- haus her und dialektal gesehen, „zweisprachig“: Die Mutter sprach westthüringisch, der Vater elbost- fälisch. Luther selbst – das erge- ben genaue Textanalysen – war zunehmend darauf bedacht, als diglossaler Nordthüringer über- regional verständlich zu sprechen und zu schreiben.

Bibelübersetzung und Sprachschöpfung 

Insbesondere Luthers Bibelübersetzung (1522 Neues Testament, 1534 Gesamtbibel) führte gerade auch im nichtreligiösen Bereich zur Durchsetzung von mittel- und norddeutschen Sprachformen, die im Oberdeutschen (in Süddeutschland) kaum üblich waren und dennoch zu einer Art frühneuhochdeutschen Standardwortschatz wurden; einige Beispiele: Ernte (statt Schnitt) – Hügel (statt Bühel) – Lippe (statt Lefze) – Peitsche (statt Geißel) – Stufe (statt Staffel) – Topf (statt Hafen) – Träne (statt Zähre) – Ziege (statt Geiß). Luther konnte aber auch Oberdeutsches (anstelle mittel- und norddeutscher For- men) bevorzugen: Abend (für Westen) – Mittag (für Süden) – Mitternacht (für Norden) – Morgen (für Osten) – Schwanz (für Zagel).

„ittliche sprag hatt ir eigen art“ (Tischreden 5, 5521) 

Diese von Aventin übernommene sprachphilosophische Erkennt- nis war zu einem guten Stück auch Luthers Übersetzungsprinzip. Im „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530) gibt Luther Beispiele für die Art seines sinngemäßen Übersetzens. Berühmt ist eine strittige Stelle im Matthäus-Evangelium (12,34), wo es bis auf Luther meist heißt: „Auß dem uberflus des hertzen redet der mund“ (getreu der Vulgata-Fassung: ex abundantia cordis os loquitur). Dazu Luther: „Ist das deutsch geredet?“ „Das kann kein Deutscher sagen, sondern ...: Wes das hertz vol ist, des gehet der mund uber“ (Sendbrief 16).

alltagsnah und sakramental zugleich 

Luther verstand sich als eigenständiger theologischer Interpret aus der Gnade Gottes. So kommt es zu dem soeben aufgezeigten alltagsnahen Übersetzungsstil, der dennoch keine Banalisierung bestimmter Stellen der Heiligen Schrift bedeutet, vielmehr deren sakralen Charakter zu wahren weiß. Beispiele: Rituelle Sprache:

„Siehe, ich verkündige euch ...“, epische Einleitung: „Es begab sich ...“, feierlicher Verbgebrauch: „Antwortete und sprach ...“ (Birgit Stolt: Luther, die Bibel und das menschliche Herz. In: MS 94, 1983, 1–15).

Bleibende Wirkung auf den deutschen Sprachschatz 

Wortschatz, Sprichwörtergut und Satzbau verdanken Luthers Sprachkraft bleibende Bereicherung.

Wortschatz: Wortbilder wie Feuereifer, friedfertig, kleingläubig, Lückenbüßer und Machtwort sind unübertrefflich. Gewandelte Wortbedeutungen stechen hervor:

„Arbeit“ meint nicht mehr Mühsal und Plage, sondern Tätigkeit, Aufgabe, Leistung. „Beruf“ ist nicht mehr klerikal, sondern weltlich besetzt und verweist auf Amt und Auftrag. Wortgut: Bereits der Mystiker (Ekkehard; Tauler; Seuse) wird bleibend bedeutungsvoll: Eindruck, Einfall, Einkehr; anschaulich, unbegreiflich, wesentlich. Sprichwörter: Ein Dorn im Auge; der Geist ist willig, aber ...; wer andern eine Grube gräbt, ...; sein Licht unter den Scheffel stellen; mit seinem Pfunde wuchern; sein Scherflein beitragen. Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen.

Satzbau: Wer von ‚Lutherdeutsch‘ spricht, denkt auch an einen einfachen, ungekünstelten Satzbau, in dem die Wortstellung noch sehr beweglich und die Verknüpfung der Satzteile locker erscheint: „Wen ein heufflin fromer Christen leyen wurden gefangen unnd in ein wusteney gesetzt / die nit bey sich hetten einen geweyheten priester von einem Bischoff / unnd wurden alda der sachen eyniß / erweleten eynen unter yhn / ... / und befilhen ym das ampt zu teuffen / meß halten / absolutieren / und predigen / der wer warhafftig ein priester / ...“ (An den Christlichen Adel deutscher Nation: von des Christlichen standes besserung, 1520). Mit den Worten von Justus Jonas, der Luther 1546 die Grabrede hielt, kann man getrost schließen: „(Luther) hat die deutsche Sprache ... recht hervor gebracht.“

Der Verfasser ist Philologe und Doktor der Theologie.



Quelle: Sprachnachrichten des VDS 4/10



Mittwoch, 16. Februar 2011

Geschichte der Deutschen Straße in Tilsit

Deutsche Straße mit Ordenskirche
Die Deutsche Straße war die älteste und breiteste Straße (35 m) unserer Heimatstadt. Noch ehe Tilsit 1552 das Stadrecht erhielt, gab es schon die „Deutsche Gasse", die parallel zur Memel lief und von der Ordensburg, die östlich der Deutschen Kirche am Memelufer lag, nach Splitter führte, wo auch eine Ordensbefestigung lag. Wir lernten in Heimatkunde, daß Tilsit von den Ordensrittern in Kreuzform angelegt worden war und daß die Deutsche Straße und die Packhofstraße dieses Kreuz bildeten.

Noch bis ins 19. Jahrhundert war die Deutsche Straße die unbestrittene Hauptstraße. Hier lagen auch die ersten zwölf Krüge, die ältesten Häuser, historisch berühmte Gebäude und schließlich die Wahrzeichen unserer Stadt: die Luisenbrücke (am Rande), die Deutschordenskirche und das Rathaus. Einen besonders schönen Gesamteindruck der Deutschen Straße hatte man vom Kirchturm der Deutschordenskirche. Umsäumt von grünen Bäumen (es waren wohl Linden?) schwang sie sich in leichtem Bogen, dem Verlauf des Stromes folgend nach Westen.

Im Vergleich zu der eleganten, verkehrsreichen Hohen Straße, die schmaler (21 m), aber belebter war, wirkte die Deutsche Straße ruhiger, behäbiger, verträumter und ländlicher, denn hier sah man an Markttagen viel mehr Bauernwagen, weil es hier ja auch mehr Krüge und Ausspannmöglichkeiten gab als in den anderen Straßen. Aber einmal im Jahr erwachte sie zu pulsierendem Leben und wurde zum Anziehungspunkt der ganzen Stadt. Das war im September zur Jahrmarktszeit. Nun war sie wieder die Hauptstraße, die mit ihren Jahrmarktsbuden eine bunte Ladenstraße bildete, in der wir stundenlang unterwegs waren, um alle Herrlichkeiten zu bestaunen, die dort angeboten wurden von Kleidung, Hausrat, Spielwaren bis zu Fischspezialitäten, Gebäck und Süßigkeiten und nicht zu vergessen den „Spitzen-jakob" und die anderen „Schmeiß-wegs" mit ihren drolligen Redensarten.

Doch begleiten Sie mich nun auf einem Spaziergang durch die Deutsche Straße, wie sie zu unserer Zeit war und wie wir sie kannten und liebten. Um meinem schwachen Gedächtnis aufzuhelfen, habe ich „das Häuserbuch der Stadt Tilsit" von Horst Kenkel, das Heimatbuch Tilsit-Ragnit und das „Einwohnerbuch der Stadt Tilsit von 1939" durchforscht. Außerdem habe ich einige alte Tilsiter befragt, um eine möglichst wahrheitsgetreue Schilderung zu geben.

Wir beginnen unseren Rundgang auf der Memelseite an der Deutschordenskirche, die früher „Deutsche Kirche", „Stadtkirche" oder auch „Alte Kirche" genannt wurde. Schon um 1538 wurde an jener Stelle eine deutsch-evangelische Kirche erwähnt, die aus Holz gebaut noch aus katholischer Zeit stammte. 1610 wurde eine neue Kirche errichtet und 1702 ein massiver Turm angebaut, der mit seinem barocken Kuppelhelm, auf acht Eichenkugeln ruhend, schon einen Napoleon (1807) begeisterte und bis in unsere Tage erhalten geblieben wäre, wenn nicht einige Jahre nach dem 2. Weltkrieg die Sowjets dieses herrliche Bauwerk mit Gewalt niedergerissen hätten. Heute finden wir an Stelle dieses „Wahrzeichens unserer Stadt" einen Parkplatz für Fahrzeuge.

Neben der Deutschordenskirche erstreckte sich ein Hof mit mehreren alten Schulgebäuden. Hier war 1586 eine „Lateinschule" gegründet worden, die später den Namen „Gymnasium" erhielt. Nach einem Brand (1824) wurden das Gymnasium 1829 neu errichtet mit einer Aula, acht Klassenzimmern und weiteren Diensträumen.

1900 wurden das neue „Gymnasium" in der späteren Oberst-Hoffmann-Straße eingeweiht und die Räume des alten Gymnasiums an die Kirchengemeinde verkauft. Hier wohnten die Pfarrer der Kirche. In den alten Klassenräumen haben wir Konfirmandenunterricht gehabt und im Gemeindesaal an festlichen Veranstaltungen teilgenommen.

Im Nachbarhaus lag still und bescheiden eine kleine christliche Buchhandlung und bei ihrer genau so bescheidenen, freundlichen Inhaberin, Lydia Szage, einer Verwandten von uns, konnte man alles haben, was ein Christenmensch brauchte: Bibeln, Gesangbücher, „Vergißmeinnichtbüchlein" usw. Meine kleine Bibel, die ich dort erstand, habe ich heute noch.

Im Parterre gab's noch die Möbelhandlung von Helene Möbius und den Fahrradladen von Otto Jonat. Es muß eines der ansehnlichsten Bürgerhäuser unserer Stadt gewesen sein, denn Zar Alexander von Rußland hatte es sich während der Friedensverhandlungen von 1807 zu seinem Quartier erkoren.

Wir überqueren die Packhofstraße und lesen an dem stattlichen Eckhaus der Deutschen Straße 4 Paul Krieger. Hier erhielt man Eisenwa- ren aller Art, Armaturen, Baumaterialien und Brennmaterial. Das Haus hatte herrliche, große Räume. Wir konnten hier ungestört mit unseren Vettern und Kusinen spielen, wenn wir bei Tante Emmchen Lauzemis zu Besuch waren; dem Eisenladen unter uns machte das nichts aus.

Auch noch andere Geschäfte und Betriebe hatten in diesem großen Hause Platz: Das Manufaktur-Geschäft von Otto Rudolph, die Möbel- handlung von Paul Mielenz, der Zigarrenladen von Anny Ruß, die Werkstätte des Schuhmachermeisters Ernst Kurras und das Steuer- beratungsbüro von Anna Scheer und auf dem Nachbargrundstück der Kurzwarenladen von Franz Simmat, sowie die Gastwirtschaft von Al- bert Barutzki.

Ja, wenn wir an Gaststätten oder Bier- und Weinstuben denken, so werden Sie staunen, daß es 1939 in Tilsit 85 und allein in der Deutschen Straße 12 solcher Lokale gab, abgesehen von Vergnügungslokalen und Ausschank in Kolonialwarenläden. An Markttagen und auch abends genossen die Tilsiter gern in geselliger Runde einen guten Tropfen. Das war so bei Sommer, einer bekannten Weinhandlung, Deutsche Str. 6, deren Inhaber, Martin Sommer vielen bekannt sein wird als Mitarbeiter in der Bundesgeschäftsstelle der Landsmannschaft Ostpreußen (30 Jahre in Hamburg). Ebenso beliebt war daneben das Weinlokal Adolph Sanio.

Auf der anderen Seite der Bäckergasse erhebt sich würdig unser Rathaus. 1565 wurde hier das erste Rathaus, ein Fachwerkbau mit unverputzten Ziegeln errichtet, das man 1752 wegen Baufälligkeit abriß.
Deutsche Straße mit Rathaus. Rechts das Haus des Weinrestaurants Adolph Sanio.
Foto: W. Hubatsch

Der Neubau wurde 1755 durch Karl Ludwig Bergius vollendet. In seiner schlichten Form mit dem kunstvoll geschwungenen Dach und dem kleinen Glockenturm war es das dritte Wahrzeichen unserer Stadt, das leider auch zerstört worden ist.

Wir werfen einen Blick in die Fischgasse. Was herrschte hier an Markttagen für ein geschäftiges Leben und Treiben. Dort hatten die Fischer aus Tilsit und der Memelniederung ihre Verkaufsstände aufgebaut und boten ihre Fische in der so vertrauten heimatlichen Mundart an: „Ei Madamche, schene Aale, auch Hechte goldfrisch!" Nie wieder habe ich solche herrlichen Zander und Quappen gesehen wie dort. Zu schade, daß man von diesem Idyll keinen Tonfilm hat!

Wir wandern nun an der Gaststätte von Oskar Mehlmann vorbei, erfreuen uns an den Uhren und Schmucksachen des Juweliergeschäfts von Emil Dammasch oder probieren einen flotten Hut bei Berta Gettner. Auch eine Kartoffelhandlung von Gertrud Profrok ist im Haus und vor allem das bekannte Fremdenheim: Auguste Rohloff. Früher war hier die berühmte Konditorei von Decomin, die Sundermann in seinen Jugenderinnerungen so begeistert schildert. Doch nun zur Buchdruckerei Otto Fülleborn, die mit ihrem Papiergroßhandel zu einem wichtigen Gewerbebetrieb unserer Stadt gehörte. Im Nachbarhaus, Nr. 12, wurde sogar 1816 die erste Tilsiter Zeitung von Johann Heinrich Post gedruckt. Sonst gab es in diesem Hause die verschiedensten handwerklichen Betriebe: die Wäscherei und Plätterei von Ella Krebs, den Schuhmacher Ernst Grigoleit, den Herrenschneider Eduard Länder, den Dekorateur Max Ruhnau, die Lederhandlung von Waldemar Knocks, die Altmöbelhandlung von Thea Lemke, Altmaterialien bei Arnold und August Launert und die Kartoffelhandlung von Ewald Gutzeit.

Und nun verweilen wir bei einem unserer schönsten Hotels, dem „Kaiserhof" (Nr. 13), dessen Inhaber Ernst Pohland es verstand, seinen Gästen ostpreußische Behaglichkeit und eine gute ostpreußische Küche zu bieten. — Wer für seine Töchter Betten zur Aussteuer brauchte, konnte sie in großer Auswahl bei Fritz Broßeit finden, im selben Haus, Nr. 14, war auch das Fahrradgeschäft von Ella Lorenscheit und die Weinhandlung mit Tabak und Konfitüren von Fritz Matschuck.
 
Doch nun wollen wir die Wasserstraße überqueren, denn dort lag ein besonderer Anziehungspunkt, der vor allem die Hausfrauen dazu bewog, nach einem anstrengenden Einkaufstag eine kleine Pause einzulegen, oder auch junge Mädchen einfach dazu verlockte, nach einem kleinen Stadtbummel zu zweit hier einen reizvollen Abstecher zu machen. Sie merken schon, daß ich die Konditorei Winter meine! Jeder kannte und liebte sie, und manche nette Erinnerung wird sich an dieses beliebte Cafe knüpfen.

Das Nachbarhaus (Nr. 17) hieß mit dem Grundstück Memelstr. 16 das Pauperhaus (Armenhaus), das so genannt wurde, weil 1698 das Ehepaar Georg Falk es sechs bedürftigen, für das Studium begabten Schülern gestiftet hatte, die dort umsonst in Pension waren. Im Pauperhaus war auch die Adlerapotheke (seit 1824) und die Praxis von Dr. Reinhold Pachur, (dem Facharzt für Haut und Harnleiden), die Spirituosengroßhandlung A. Mendthal, die Färberei Heinz Stanzick und der Friseur Paul Wiedemann.

Auch in Nr. 18 wohnten viele Gewerbetreibende. An die Bäckerei Ziplies erinnert sich wohl mancher. Aber daß es dort noch die Motorradreparaturwerkstätte von Martin Meißis, die Büromaschinen von Bruno Gritzko, Oran-Lampen von Karl Mangelsdorf, einen Zuckergroßhandel von Gertrud Romeika und den Möbeltischler Gustav Kablau gab, werden nur wenige wissen.

In Nr. 19 fiel das Beerdigungsinstitut von Franz Brock ins Auge und die Autovermietung von Johann Grün. Dann gab's da den Kolonialwarenladen von Betty Petereit und das Hutgeschäft: Berta Schäfer für die elegante Dame und den Schneider Erich Oberpichler für den eleganten Herrn.

In Nr. 20 finden wir schon wieder einen Kolonialwarenladen von Fritz Buchholz und den Schneider Otto Rosenfeld, die Buchführungsstelle: Willy Pempeit, den Maler: Felix Horlitz, die Farberei: Emil Jodzuweit und das Radiogeschäft: Hans Lengies.

Nun bleiben wir vor einem Hause stehen, das keiner von uns vergessen haben wird, die Möbelfabrik von August Schmidt & Söhne, Inhaber: Franz Perlebach mit ihren großen Schaufenstern und Möbelangeboten, vor allem aber mit dem imposanten Eingang, der von zwei steinernen, großen Löwen, die dort aufrecht saßen, sozusagen bewacht wurde. So etwas gab's in Tilsit nur einmal und erregte besondere Bewunderung der Kinder.

Wir überschreiten die Sprindgasse, erfreuen uns an dem Blumenschaufenster von Ida Jotzat, an den Auslagen des Juweliergeschäfts Willi Riel und dem neuesten Waschpulver in der Drogerie Broschell. Die Herren kehren inzwischen lieber in der Gastwirtschaft von Georg Braxein ein. In Nr. 23 ist die kleine Möbelhandlung: Max Kassat.

Und nun betrachten wir das berühmte Napoleon-Haus mit den Urnen auf dem Dach, einem weit sichtbaren Kennzeichen (Nr. 24). Dieser klassizistische Bau war eines unserer schönsten Häuser und auch innen großzügig angelegt mit einem wunderbaren Treppenhaus und riesigen Räumen, die durch geöffnete Flügeltüren noch großartiger wirkten. Ich kannte dieses Haus, weil eine Klassenkameradin, Ilse Grunwald, Tochter des späteren Direktors der Aufbauschule in Ragnit, dort lebte.

In diesem historisch bedeutsamen Hause wohnte vom 4.- 6.4.1807 das preußische Königspaar, vom 1.- 15.6. der preußische König und vom 26.6.-9.7.1807 Napoleon. Hier fand auch eine Zusammenkunft mit dem preußischen Königspaar statt.

1939 hatte in diesem Hause Dr. Wolfgang Lengemann seine Arztpraxis. Zeitweilig war auch der Papierwarenladen: Beister, Inhaberin: Kate Krusch, hier und zuletzt ein Blumenladen, sowie das Büro der Tilsiter Rollfunr-Gesellschaft.

Das Haus Nr. 25 war ähnlich gestaltet wie sein berühmtes Nachbarhaus. Dort hatte die Weingroßhandlung Mernati, August Ferdinand Mertins Nachf. von 1884 - 1944 ihren Sitz. Von den ausgedehnten Weinproben in den altdeutschen Kellern kann mancher Weinfreund noch lustige Histörchen erzählen.

Da wir mit Klemms, denen die Firma von 1904 - 38 gehörte, verwandt waren, haben wir festliche Stunden in den herrlichen Räumen verlebt. Im nächsten Haus, Ecke Langgasse, gab's etwas Besonderes, was uns Kindern am Herzen lag. Neben seinem Friseurgeschäft unterhielt Alfred Schüler eine Puppenklinik. Ob in unserer schnellebigen „Weg- werfgesellschaft" noch so ein Gewerbe existiert?

Auf der anderen Seite der Langgasse sehen wir schon von weitem die Sargtischlerei von Otto Kuhn. Auch das Zigarrengeschäft von Egbert Schulz, die Sattlerwerkstatt von Gustav Giebler, die Möbeltischlerei von Marta Zander und der Friseur Erwin Pomplun waren in diesem Hause.
 
Deutsche Straße Nr. 24. Das Haus, in dem Napoleon während des Friedensschlusses 1807 wohnte. Foto: W. Hubatsch

In Nr. 28 können wir uns Fahrräder bei Paul Ehlert ansehen — damals waren sie mehr gefragt als Autos. Es gab 1939 nur 6 Autogeschäfte in Tilsit ...  Schon wieder eine Möbelhandlung? Diesmal von Lotte Zoeller. Daß so viel Möbel gekauft wurden, wo es doch damals noch keinen „Sperrmüll" gab! W ir wandern nun an einer Mehlhandlung, der bekannten Firma Johann Friedrich Bruder vorbei, an der Wäscherei und Heißmangel von Pauline Panke und an der heute so selten gewordenen Werkstatt eines Böttchers, des August Bierenbrodt vorbei, um uns in Mielkes Bierstuben ein wenig auszuruhen . . . Oder gehen wir lieber ins nächste Haus, in die Gaststätte von Ernst Stamm, wo auch der Gas- und W asserinstallateur E. Kreutzer seinen W ohnsitz hat? Oder trinken wir lieber im „Pilsener" ein Tulpchen Bier bei Emil Rimkus?

Diese vielen Gaststätten so dicht nebeneinander verwundern uns immer wieder. Aber wenn man an die langen Herbst- und Winterabende denkt, kann man es wohl verstehen, daß unsere Tilsiter sich nach Geselligkeit und Abwechslung sehnten.

Wir betrachten nun die hübschen Bilder des bekannten Photoateliers Otto Florian, der so nette Familien- und Landschaftsaufnahmen machte, kaufen etwas Obst bei Georg Kaliweit, ein paar Blumen bei Erich Reinhold und möchten uns am liebsten ein Auto für eine Fahrt zum Schloßberg bei August Kochanowski mieten. Ein Auto zu kaufen, wäre den meisten Tilsitern damals nicht im Traum eingefallen.

Dagegen begannen die Elektroinstallateure, die auch Lampengeschäfte hatten, immer häufiger zu werden, hier Eugen Grigoleit, nebenan sogar noch Radioanlagen bei A. Valentini.

Doch ehe wir weitergehen, sollten die Herren nicht versäumen, dem Schneidermeister Eduard Banscher einen Besuch abzustatten und sich bei dieser Gelegenheit seinen kuriosen Papagei anzusehen! Nach diesem kleinen Abstecher wenden wir uns dem Fleischerladen von Ernst Schoeppe zu, der ausgezeichnete Angebote hat, gehen an der Polsterwerkstatt von Walter Vormeyer vorüber und verweilen vorder Bäckerei von Paul Nadzeika mit ihren verlockenden Backwaren. Wir trennen uns, um bei W. Tennigkeit neben den Fahrrädern die neu- esten Motorräder der Firmen NSU, BMW und Triumpf zu bestaunen. Dann geht's am Sargmagazin: Hermann Schmerling vorbei. Bei Marie Zuttmann kaufen wir ein paar Tomaten, geben unsere Schuhe beim Schuhmacher Eduard Zuttmann ab und sind froh, daß wir uns nicht beim Dentisten Gustav Wilma anmelden müssen.

Das Lebensmittelgeschäft Arno Ehleben hat auch gute Angebote. Besonders sehenswert sind aber die Wirtschaftsartikel und Korbwaren von Emma Weiß unter der Treppe des großen schönen Nachbarhauses. Dort bestand bis 1930 die Molkerei von Otto Braun. Mit der netten Christel Braun habe ich als Kind oft dort gespielt. Was mag aus ihr geworden sein?

Auch hier schon wieder eine Bestattungsanstalt der Gebrüder Glietz. In der Deutschen Straße war diese Innung wohl besonders häufig vertreten. Sogar eine dritte Autovermietung, die von Franz Krüger, soll uns wohl endgültig zu einer Fahrt ins Blaue verlocken. Wir sind nun am Deutschen T or angelangt, das innerhalb eines Schutzwalls während der Schwedenzeit erbaut (1679), aber später (1864) wieder abgerissen wurde, überqueren diese breite Straße und wandern auf der linken Seite wieder zurück.

Im ersten Haus (39) auf der linken Seite lag die Firma Georg Kenklies. Dazu gehörten: eine Gastwirtschaft mit Ausspann, eine Kohlenhandlung, eine Kaffeebrennerei und eine Aral-Tankstelle. Von 1924 - 44 war diese Firma in dieser Familie.

Im Nachbarhause bewundern wir die schönen Möbelausstellungen der Möbelfirma Otto Paulin, gegründet 1904 und von 1924 - 44 im Besitze dieser Familie. Zuletzt war Liesbeth Zadeck die Inhaberin, Tochter von Paulin. Dabei denke ich an das tragische Schicksal dieser Familie. Herr Zadeck, Inhaber einer Pianofirma in der Wasserstraße, bei der mein Vater zu seinen Konzerten oft einen Flügel auslieh, war Jude. Seiner Tochter Suse gelang es noch rechtzeitig, sich mit ihrem jüdischen Mann nach Australien abzusetzen. Wo mag die übrige Familie geblieben sein, Peter und Hannehilde, mit denen wir als Kinder gespielt habe. 

Im selben Haus gab's noch das Konfektions- und Hutgeschäft von Albert Waitschies und die Weiß- und Kurzwaren von Käte Krusch. In Nr. 41 lag die Hauptzweigstelle I der Städtischen Sparkasse und das Kolonialwarengeschäft von Heinrich Wischnat. In Nr. 42 war bis 1909 die Vereinsbrauerei gewesen und von 1924 - 44 die Gastwirtschaft Heinrich Budwill. Auch mehrere Handwerksbetriebe hatten sich dort niedergelassen, so die Bauglaserei und Bildereinrahmung E. Böhnke, der Korbmacherladen Gustav Doebler, ein selten gewordenes Handwerk, und der Tapezierer Otto Schattner.
 
An das Konfektionsgeschäft von Fritz Mikat, bei dem uns die freundli- che Ehefrau so nett bediente, erinnere ich mich noch genau, und die Fischhandlung von Kurt Pippis mit den fetten Räucheraalen ist vielen auch noch bekannt, sowie der Tapetenladen von Erich Bildat, die Lackiererei von Louis Baußus, die Sattlerei von Paul Frank und der Stellmacher August Mikat.
 
Das nächste Haus Nr. 51 stand mit seiner schönen Barock-Fassade unter Denkmalschutz. Von 1856—1944 war es im Besitz der Bäckerei Behrendt. Auch die Milchhandlung und das Taschenlampen-Geschäft von Emil Janz waren in diesem Hause. Auf dem großen Grundstück Nr. 52/53 lag ein Autohof mit einer Autoreparatur-Werkstätte von Art- hur Plonus und einer Elektroinstallation von Max Jackstadt, daneben

Wir gehen vorbei an der Gastwirtschaft von Benno Becker, dem Kurzwarenladen von Georg Petzold, der früher Ludzoweit gehörte, an dem bekannten Kolonialwarenladen von Emil Schienther, an der großen Eisenwarenhandlung von Paul Manleitner und bemerken ein kleines Schild: Violinlehrer Bruno Schnabel. Uns fällt das berühmte Schnabel-Streichquartett ein, das öfter im Stadttheater Kammerkonzerte gab. Wir werfen einen Blick in den Blumenladen von Fritz Haese und sehen das große Firmenschild von Paul Struwe: Baustoffe, Eisen und Kohlen. In den Wein- und Bierstuben von Ernst Schnell wollen wir jetzt nicht Station machen, sondern betrachten uns lieber die Auslagen des Textilgeschäftes Franz Lingnau (1924-1944).

Auf der anderen Seite der Langgasse erwartet uns schon das Wollgeschäft: Ferdinand Richter, das den Bleyle-Alleinverkauf von Tilsit hatte. Dort kauften meine Eltern blaue Matrosenanzüge für die 3 Jungen und Strickkleider für die drei Mädchen. Die Stricksachen waren teuer, aber von so guter Qualität, daß sich die Ausgabe lohnte.

Im selben Hause lag auch das Lederwaren- und Papier-Großhandelsgeschäft von Walter Schiemann. So manches Mal habe ich im Schaufenster die schönen Handtaschen, Koffer und Schirme bewundert. Herr Schiemann, den ich neulich bei seiner Tochter Ulla Sonnenberg in Marxen besuchte, hat mir über die Deutsche Straße wichtige Auskünfte gegeben. Er wird jetzt 90 Jahre alt, und wir grüßen ihn herzlich als einen unserer ältesten Tilsiter Bürger.

Und nun zu „EWECO", Ewald, Ewert & Co. Es gibt sicher keinen Tilsiter, der es nicht kannte. Dieses große Geschäft mit seinen vielseitigen Angeboten, das zugleich Drogerie, Farbenhandlung, Lebensmittelgeschäft und Kaffeerösterei war und eine Gast-Stube mit großem Hof für den Ausspann der Bauern hatte. So mancher wird sich an das Wurst-Essen dort erinnern, wenn Ewerts ein Schwein geschlachtet hatten! Und nicht vergessen wollen wir die berühmte Tochter Ulla Ewert, die fünfmal Meisterin im Florett-Fechten von Ost-, Westpreußen und Danzig war und dann den Florett-Fechtmeister Walter Fromm heiratete.

das Seifen-Spezialgeschäft von Frieda Renkewitz, früher Schön und die Geschäftsstelle der Feuersozietät von Tilsit. Im Hause Nr. 54/55 können wir in dem Schuhgeschäft von Schröders und Co., früher Wolf, die modernsten Modelle bewundern oder auch die neueste blitzenden Fahrräder bei Fritz Altmann. Sogar ein zahntechnisches Laboratorium von Hans Arnold gab es hier.
Deutsche Straße Nr. 50. Das Geschäftshaus der Firma Ferdinand Richter Nachf. Dahin- ter das Haus der Bäckerei Behrendt. Foto: Privat

Wir gehen an der Auto-Glaserei von Kuno Seeck vorüber, werfen einen Blick in seine Bilderhandlung und in das Juweliergeschäft von Otto Wagner. Auch ein Gebäude-Reinigungs-Institut von Fritz Schumann gab es in Nr. 56. Wir informieren uns bei Paul Petereit über die aktuelle Hutmode und verweilen ein wenig vor dem Kinder-Paradies, dem Spielwarengeschäft von Rudolf Gohl, das neben Klammer das größte Tilsits war.

Daß soviel Juweliergeschäfte so dicht nebeneinander bestehen konnten? Denn hier stellten Kurt Demand und Willy Schwarz ihren Goldund Silberschmuck zur Schau. Und nun kommen wir zu einem Geschäft, das in seiner Art wohl einzigartig in der Deutschen Straße war: die Musikalienhandlung von Majöwski. Nicht daß wir Tilsiter die Musik nicht liebten, aber Instrumente außer Mundharmonikas und Blockflöten waren auch damals schon teuer, und wir bewunderten die blanken Trompeten, die blitzenden Schiffer-Klaviere, die Gitarren und Geigen, neben denen die Fertigkleidung von Georg Freund natürlich verblaßte.

Das Schuhgeschäft von J. Hardt (Inh. Fritz Stephani) ist Ihnen wohl auch noch in Erinnerung. Mehrere große Betriebe hatten sich auf diesem Grundstück Nr. 60 niedergelassen, so die Bauklempnerei und Zentralheizungen von Otto Gassner, die Bonbon- und Konfitürenfabrik von Kurt Braun, die Vulkanisieranstalt: Richard Kissnat und die Fischhandlung: Franz Wildies.

Doch nun zu den Pelzwaren von Albert Jotzat (Inh. Kurt Borrmann)! Das war eine Pracht, diese herrlichen Pelze: Persianer, Füchse und Nerze! Für uns Jugendliche waren das damals unwirkliche Träume, die nur ältere oder begüterte Leute sich erfüllen konnten.

Im selben Hause gab es noch die Spielwaren und Schneider-Artikel von Th. Lamprecht (Inh. Hoffmann & Boy). Im Fotogeschäft von Gertrud Hakelberg daneben haben wir oft unsere Filme entwickeln lassen. Im Zigarrenladen von Emma Pettokat dagegen war hauptsächlich Herrenkundschaft wie auch in der Werkstätte des Schneiders Titschkus.

Im Eckgebäude zur W asserstraße lud das große T extilgeschäft von: Gebr. Dehler (1938-1944), (früher Max Bräude) zum Einkauf ein. Es war ein modernes Kaufhaus, das sich mit seinen vielen Abteilungen: Konfektion, Stoffen, Wäsche, Bekleidung aller Art, Kurzwaren, wohl mit heutigen Kaufhäusern vergleichen läßt. Auf der anderen Seite der Wasserstraße grüßt der schöne alte Bau von: „Wächters Grüne Apotheke" herüber, deren Inhaber Bernhard Grundmann (1901-1944) und deren Pächter Manfred Vollradt war. Im selben Hause hatte: Friedrich Mitzkat ein Gardinen- Teppich- und Tapetengeschäft. In Nr. 64 war das Weiß-, Woll- und Kurzwarengeschäft von: Scholz & Hinz, das früher Hugo Brinitzer gehörte.

Ebenso bekannt war die große Bekleidungsfirma von Leiner & Wenik, die später nur noch Wilhelm Leiner gehörte und vor allem Herrenbekleidung, Maßschneiderei und Uniformen führte. Ganz bescheiden nahmen sich dagegen das Hut- und Putzgeschäft von Meta Beßon und die „Diakonissenstation" aus.

Doch nun zu Wiemers Lederwaren, wo es auch Seiler- und Schiffahrtsartikel gab, von 1884-1944 im Besitz dieser Familie. Im nächsten Schaufenster können wir die Pelzwaren und Herrenstoffe von: Carl Eisenberg betrachten. Und wenn man einen Fuhrhalter brauchte, konnte man sich an Wilhelm Kryßon wenden, der hier in Nr. 66 wohnte.
 
Und nun zu Kaisers Kaffee-Geschäft! Wer kennt es nicht mit seinem stets frisch gerösteten Kaffee aus eigener Brennerei, das 1944 noch Thams & Garfs übernahm? Und wem ist das Manufakturgeschäft von Carl Theisen noch ein Begriff? Ich besitze noch einen Kleider-Bügel mit seinem Namen, der die Flucht überstanden hat.
 
Wir sind am Schenkendorfplatz angelangt und bewundern das berühmte dreistöckige Eckhaus, Nr. 68, das sogenannte „Blaurocksche Haus" mit seinem herrlichen Barockgiebel zum Marktplatz. Es war das Zweitälteste Privathaus der Stadt, erhielt 1694 das Apothekenprivileg, das 1700 an Georg Falck vergeben wurde, der das Haus 1705 neu erbaute. Unter seinem Nachfolger, Georg Heinrich ging das Grundstück 1727 in Konkurs und das Apotheken-Privileg war erloschen. Von 1864-1885 war dieses Haus im Besitz der Familie Blaurock und führte seitdem diesen Namen.

Das Eckhaus auf der gegenüberliegenden Seite des Schenkendorfplatzes, Deutsche Straße Nr. 69, war das älteste Haus unserer Stadt, bekannt durch die „Falkenapotheke" und seinen Inhaber Kurt Peters.

Es hatte schon 1552 eine Kruggerechtigkeit und 1694 ein ApothekenPrivileg erhalten. 1695 wurde es neu erbaut und blieb so bis in unsere Tage erhalten. Die Jahreszahl „1571" für das Baujahr ist falsch und kann sich nur auf einige ältere Teile des Hauses beziehen. Von 1719-1744 gehörte das Haus dem Apotheker Dr. med. H. Christian Falck. Vielleicht hat der Apotheker von Prodszinsky es deswegen 1830 „Falkenapotheke" genannt.

In Nr. 70 begegnen wir wieder einem Juweliergeschäft Erich Eckstein und dem Zigarrenladen Max Prange. Der nächste Häuser-Komplex Nr. 71 mit Packhofstr. 4-6 war das „Stadthaus", mit seinen Verwaltungsräumen.
 
Schon von weitem lesen wir auf der anderen Seite der Packhofstraße den Werbe-Slogan „Schau nicht rechts, schau nicht links, Kauf nur bei Raudies und Bugenings!"

Dieses große Konfektionsgeschäft war im Besitz der Familie Raudies von 1907-1944. Auch die Autovermietung Viktor Dzikus befand sich in diesem Grundstück.

Das „Dewitzsche Haus" (in Nr. 74) hatte historische Bedeutung. Wahrscheinlich wurde hier (oder Hohestr. 93, das auch Dewitz gehörte) der Friede zu Tilsit von Napoleon mit Rußland am 7.7.1807 und mit Preußen am 9.7.1807 unterzeichnet. 1939 waren hier ein Holzmeßamt und die Gastwirtschaft: Ewald Grickschat.

W ir sind am Fletcherplatz angelangt und beenden unseren Spaziergang in die Vergangenheit. Um den 18.1.1945 wurde Tilsit von den Russen besetzt. Es war zu 80 % zerstört. Auf der rechten Seite der Deutschen Straße stand fast kein Haus mehr. Heute wissen wir von Augenzeugen, daß die Häuser der Deutschen Straße wieder in neuartigem Stil aufgebaut sind.

Aber die Wahrzeichen der Stadt, die Luisen-Brücke, die Deutschordenskirche und das Rathaus gibt es nicht mehr, und alle die schönen Häuser, Geschäfte und gewerblichen Betriebe, an denen wir vorübergingen, leben nur noch in unserer Erinnerung.

Ursula Meyer-Semlies
Quelle: Tilsiter Rundbrief 9-1979/80


Samstag, 12. Februar 2011

Das Vorbild des Grafen Yorck von Wartenburg 1813 in Königsberg

General Johann David Ludwig Graf Yorck von Wartenburg kann auch für die heutige Politik noch ein Vorbild sein

„Ansprache des Generals von Yorck an die Ostpreußischen Stände in Königsberg am 5. Februar 1813“ Gemälde von Otto Brausewetter (1835–1904) aus dem Jahre 1888

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie ist voller Parallelen, Analogien und ähnlichkeiten sowie Lehren und Vorbildern. Schauen wir uns die gegenwärtige Lage Deutschlands an. Wie die Feierlichkeiten und die Rede der deutschen Regierungschefin Angela Merkel am 1. September 2009 zeigten, ist sie noch immer durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. Vor nunmehr über sechs Jahrzehnten erlitt Deutschland eine seiner schwersten Niederlagen und wurde besetzt. Bezwinger waren die US-Amerikaner und deren Verbündete. Heute stehen US-amerikanische Soldaten noch immer in Deutschland.

Mittlerweile ist Deutschland mit den USA verbündet. Die USA, deren Macht nach dem Zweiten Weltkrieg noch zugenommen hat, streben eine unipolare Ordnung für die Welt an. Die Durchsetzung dieser Ordnung stößt unter anderem in der islamischen Welt auf Widerstand. Heute führen die USA Krieg in der islamischen Welt. Deutschland hat traditionell entspannte bis gute Beziehungen zur islamischen Welt.

Deutschlands politische Führung vertritt jedoch die Ansicht, daß die Staatsraison "uneingeschränkte Solidarität“ gebiete, und leistet Heeresfolge. Der Krieg in der isla- mischen Welt verläuft nicht so, wie die USA es sich gedacht hatten, worauf sie mit dem Wunsch nach noch mehr deutschen Soldaten reagieren.

Und wie war die Situation vor 197 Jahren, also im September 1812 in Preußen? Gut fünf Jahre zuvor hatte Preußen im Vierten Koalitionskrieg (1806/07) eine seiner schwersten Niederlagen erlitten. Bezwinger waren die Franzosen und deren Verbündete. Im September 1812 standen französische Soladten noch immer in Preußen. Mittlerweile war Preußen mit Frankreich gezwungenermaßen verbündet. Frankreich, dessen Macht nach dem Vierten Koalitionskrieg noch zugenommen hatte, strebte nun eine unipolare Ordnung für Europa an. Die Durchsetzung dieser Ordnung stieß unter anderem in Rußland auf Widerstand. Frankreich führte 1812 Krieg gegen Rußland, und Preußen mußte dazu ein Hilfskorps unter dem Befehl des Generals Yorck v. Wartenburg stellen.

Preußen hatte seit dem Tode Zarin Elisabeths entspannte bis gute Beziehungen zu Rußland. Der Krieg in Rußland verlief nicht so, wie Frankreich es sich gedacht hatte, worauf es mit dem Wunsch nach noch mehr preußischen Soldaten reagierte.
Doch dann unterzeichnete Ludwig Yorck von Wartenburg Ende 1812 die Konvention von Tauroggen. Mit dieser Neutralisierung des von ihm kommandierten preußischen Kontingents in Napoleons Grande Armee beendete der preußische General das Sterben preußischer Soldaten für französische Interessen in Rußland. Wo ist der Yorck der Gegenwart, der das Sterben deutscher Soldaten für US-amerikanische Interessen in der islamischen Welt beendet?

M.R.
Preußische Allgemeine Zeitung 06/11



Freitag, 11. Februar 2011

Vor 500 Jahren wurde Albrecht von Brandenburg-Ansbach Hochmeister des Deutschen Ordens

Albrecht von Brandenburg-Ansbach 1522
Am 13. Februar 1511 wurde Albrecht von Brandenburg-Ansbach zum Hochmeister des Deutschen Ordens gewählt. 14 Jahre später wurde der Hohenzoller zum Totengräber des Deutschordensstaates, indem er ihn in ein profanes, erbliches Herzogtum von Polens Gnaden umwandelte.

Im Deutschordensstaat wurde wie in Preußen das Leistungsprinzip verfolgt. Statt Protektion und Beziehungen sollte die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft über die Besetzung von Staatsämtern entscheiden. So versuchte der Deutsche Orden denn auch über Generationen das Mitglied an die Spitze zu wählen, das sich bis dahin am besten im Dienst am Orden bewährt hatte.

Auf Anraten des Hochmeisters Johann von Tiefen kam man von diesem Prinzip jedoch ab. Der Ordensstaat sah sich nicht mehr in der Lage, alleine der polnisch-litauischen Union zu widerstehen, und wählte deshalb fortan Fürstensöhne zu Hochmeistern, in der Hoffnung, dass diese dann ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zum Wohle des Ordensstaates spielen lassen würden.

Nach Tiefens Tod im Jahre 1497 war der Wettiner Friedrich von Sachsen der erste der nach diesem neuen Kriterium ausgewählten Hochmeister. Ihm folgte nach dessen Ableben 1510 der Hohenzoller Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Väterlicherseits war Al- brechts Großvater der Kurfürst von Brandenburg sowie Markgraf von Ansbach und Kulmbach Albrecht Achilles und mütterlicherseits der polnische König Kasimir II. Mit der Wahl Albrechts verband sich so die Hoffnung, Verbündete im Reich zu finden und Polen zu beschwichtigen.

Nachdem Albrecht noch im Todesjahr seines Vorgängers von den Gebietigern zum künftigen Hochmeister gewählt worden war, wurde er am 13. Februar 1511 in der Deutschordenspropstei Zschillen bei Chemnitz in den Orden aufgenommen, von den Ordensbevollmächtigten endgültig zum Hochmeister erkoren und mit dieser Würde bekleidet.

Kaum im Amt, sah er sich mit der Forderung seines Onkels König Sigismund I. von Polen konfrontiert, ihm den Treueeid zu schwören. Der polnische König betrachtete sich aufgrund des Zweiten Thorner Friedens von 1466 als Lehnsherr des Ordensgebietes und meinte deshalb, auf diesen Treueeid Anspruch zu haben. Diesen Akt der Unterwer- fung und der Anerkennung der Oberhoheit Polens versuchte jedoch der neue Hochmeister wie sein Vorgänger mit allen Mitteln zu vermeiden.

Dieser Machtkampf belastete die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen dem Deutschordensstaat und der polnisch-litauischen Union und mündete schließlich 1519 in einen Krieg. In diesem sogenannten Reiterkrieg blieb ein kriegsentscheidendes Aufeinandertreffen der Streitmächte aus. Statt dessen konzentrierten sich die kriegführenden Parteien darauf, mit ihren Reitern im Herrschaftsgebiet des jeweils anderen zu rauben und zu brandschatzen.

Im Jahre 1521 vermittelten der römisch-deutsche Kaiser Karl V. und König Ludwig II. von Böhmen und Ungarn aus dem polnischen Herrschergeschlecht der Jagiellonen in Thorn einen auf vier Jahre angesetzten Waffenstillstand. In dieser Zeit sollte ein Schiedsgericht unter der Leitung der beiden Monarchen die Streitfrage der Kriegskontrahenten zur Entscheidung bringen, ein frommer Wunsch.

Albrecht nutzte die Zeit, um im Reich Verbündete zu werben. Hierzu suchte er das Reichsregiment in Nürnberg auf. Während des Reichstages von 1522/23 besuchte er hier auch Predigten Andreas Osianders und kam mit dem Reformator in persönlichen Kontakt. Dem Mitstreiter Martin Luthers gelang es, den Hochmeister für die lutherische Lehre zu gewinnen. Der Deutschordensstaat war seit der Tannenbergschlacht von 1410 zusehends auf dem absteigenden Ast und die katholische Kirche in einer Krise, und als Albrecht eine Mahnung aus Rom erreichte, seinen Orden zu reformieren, suchte der Hochmeister Luther selbst in Wittenberg auf und bat ihn um Rat. Luther riet dann dem Hochmeister, den Ordensstaat in ein weltliches Fürstentum umzuwandeln.

Albrecht befolgte den Rat. Bevor 1525 der Waffenstillstand mit Polen ablief, schlug der Hochmeister dem polnischen König eine Paket- lösung vor: Sigismunds Anerken- nung der Umwandlung des Ordensstaates in ein erbliches Herzogtum mit Albrecht als Herzog gegen Albrechts Anerkennung der Lehensherrschaft Sigismunds. Die polnische Seite stimmte zu. Am 8. April 1525 schlossen die Kriegs- parteien zu Krakau Frieden und besiegelten das Ende des Deutschordensstaates. Albrecht huldigte seinem Onkel und erhielt die Herzogswürde in Preußen verliehen.

Der Deutsche Orden und der Kaiser erkannten die Umwandlung nicht an, aber Albrecht sicherte abgesehen vom Einvernehmen mit dem übermächtigen polnischen Nachbarn die Aktion durch Bünd- nisse mit anderen protestantischen Herrschern geschickt ab. Zudem hatte die Reformation während seines Aufenthaltes im Reich auch im Deutschordensland viele Freunde und Anhänger gefunden. Um Pfingsten kehrte Albrecht als Herzog in das Gebiet zurück, das er als Hochmeister verlassen hatte. In der Hauptstadt Königsberg nahm er vom versammelten Land- tage in Gegenwart polnischer Botschafter die Huldigung entgegen. Jene wenigen Ordensritter, die den Wechsel nicht mitmachen beziehungsweise nachvollziehen wollten, wurden des Landes verwiesen. So wurde aus dem Deutschordensstaat das Herzogtum Preußen.

Manuel Ruoff
Preußische Allgemeine Zeitung 06/11

Mittwoch, 2. Februar 2011

Königsberger in Danzig

Anton Möller: Modell der Welt und der Danziger Gesellschaft
Das Hauptwerk des Künstlers, das 1602 gemalte ,Weltgericht‘, zählte neben Memlings ,Jüngstes Gericht‘ zum wertvollsten Kunstbesitz der Stadt Danzig“, schreibt Hans-Georg Siegler in seiner 1991 bei Droste erschienenen Chronik der Stadt Danzig über den Maler Anton Möller. „Es ist eine geistige Neudeutung der Idee des Weltgerichts. Die Scheidung der Gerichteten in Verdammte und Selige wird umgedeutet in den ,Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft des Menschen‘, der symbolhaft in der Brust des einzelnen ausgetragen wird. Das ,Weltgericht‘ ist als Wandbild des Artushofes in den letzten Märztagen des Jahres 1945 in der Feuersbrunst, die Danzig vernichtete, untergegangen.“

Sein Schöpfer Anton Möller zählt zu den ersten großen Malern des Barock aus Ostdeutschland. Vor 400 Jahren starb der Meister in Danzig, dort, wo er seine großen Werke schuf. Geboren um 1563 als Sohn des Hofbarbiers und Wundarztes Herzog Albrechts, Anton Möller, in Königsberg, nahm er 1578 eine künstlerische Lehre in Prag am Hof von Rudolf II. von Habsburg bei einem für den Kaiser tätigen Maler auf. Knappe zehn Jahre später dann ließ der Königsberger sich in Danzig nieder. Seine Bilder erinnern an die Schöpfungen der großen Niederländer, aber auch an Tintoretto, ohne jedoch reine Kopien zu sein.

„Seine erste gesicherte Porträtschöpfung“, so Siegler, „ist das Bildnis des Bischofs Moritz Ferber, eine von Möller mit der Jahreszahl 1590 versehene Kopie.“ Dieses Bildnis und weitere acht Holztafeln mit Frauentrachten von Möllers Hand sind heute im Stadtmuseum Danzig zu besichtigen. „In seinem Holzschnittwerk der Frauentrachten erweist sich der Meister als ein hervorragender Figurenmaler, der über die topographische Absicht der Darstellung hinaus eine wirklichkeitsgetreue Schilderung des Volkslebens vor den Toren Danzigs gibt, wo er sich als Stadtmaler niedergelassen hatte.

Katharinen-Kirche
Das graphische Werk, von dem Blätter in den Museen und Kupferstichkabinetten von Wien, Berlin, Dresden und Frankfurt am Main erhalten geblieben sind, umfaßt Stiche, Feder- und Tuschzeichnungen. Die Darstellungen zeigen Allegorisches, Motive zeitgenössischen Volkslebens, darunter als eines der reizvollsten der am 14. Mai 1587 entstandene Kupferstich einer Bauernkirmes. Das erste seiner mit Tusche lavierten Blätter ist das 1596 datierte ,Venusfest‘, eine allegorisch-genrehafte Darstellung, deren bacchantisch-lebenspraller Gehalt von dem Maler in einem ,ausdrucksvollen Reim gesetzt‘ wurde.“

Heute kann man in dem restaurierten Danziger Rathaus Anton Möllers berühmtes Bild „Der Zinsgroschen“ aus dem Jahre 1601 wieder bewundern. Auch in der Katharinen-Kirche sind Gemälde von Möller vorhanden. Als der Meister am 1. Februar 1611 in Danzig starb, hinterließ er ein reiches Werk, das viele Maler im deutschen Nordosten noch lange beeinflußt und geprägt hat. os

Quelle: Preußische Allgemeine

Dienstag, 1. Februar 2011

Die russischen Besatzer verscherbeln Königsberger Immobilien aus der Vorkriegszeit

Ehemaliger Kindergarten: Villa in der Gluck-Straß
Die Behörde für Grundbesitz will auf einer Auktion städtisches Grundeigentum versteigern. Normalerweise vollzieht sich so etwas, ohne daß die Öffentlichkeit groß Notiz davon nimmt. Doch diesmal ist das anders, weil sich unter den 14 Objekten, die nun unter den Hammer kommen sollen, Gebäude befinden, die von öffentlichem Interesse sind. Es handelt sich um das Gebäude des ehemaligen Kinos „Gloria“ in der Brandenburger Straße 71 (Kiewskaja), in dem sich in den vergangenen Jahren das Kinotheater „Rodina“ befand, die „Villa“ in der Hoverbeck-Straße 22 (ul. Turgenewa) und die große Villa in der Gluck-Straße 10 (ul. Grekowo), in der lange ein Kindergarten untergebracht war.

Am höchsten wird von allen das „Rodina“-Gebäude bewertet: Für die 1728 Quadratmeter Nutzfläche plus Grundstück wird ein Startpreis von umgerechnet 1,15 Millionen Euro veranschlagt, für die „Villa“ auf der Hoverbeck-Straße mit 907 Quadratmetern Wohn- und Nutzfläche 333.000 Euro.

Das interessanteste Objekt ist die Villa in der Gluck-Straße. Das Gebäude eines ehemaligen Kindergartens hat über 1000 Quadratmeter Wohn- und Nutzfläche auf einem 4540 Quadratmeter großen Grundstück. Es befindet sich in einer ruhigen Gegend im Zentrum zwischen dem städtischen Theater und dem Zoo. Es wurde auf 587.000 Euro geschätzt, was äußerst niedrig ist im Verhältnis zu vergleichbaren Immobilien in guter Lage. Grund dafür ist der Zustand des Hauses, denn die Villa verfällt schon seit längerem: Der Putz bröckelt, die Fenster sind zerbrochen, das Dach ist undicht und das Grundstück verwildert.

Die Leidensgeschichte des Kindergartengebäudes begann vor etwa zehn Jahren. Schon im Sommer 2001 wurde der Kindergarten wegen umfangreicher Renovierungsarbeiten geschlossen. Der Kindergarten wurde solange in ein anderes Gebäude ausgelagert. Die Stadtverwaltung hatte den Erziehern in Aussicht gestellt, dass die Bauarbeiten zum 1. September 2002 beendet sein würden. Doch geschehen ist bis heute nichts.

Auf dubiose Weise gelangte die Villa 2004 auf die Liste der zu privatisierenden Objekte. Normalerweise versteigert die Stadtverwaltung nur solche Immobilien, die ihren Zwecken nicht mehr dienlich sind, dabei handelt es sich meist um Läden oder andere Gewerbeobjekte. Warum ein Kindergarten auf dieser Liste steht, blieb unklar. Die Villa ging ins Stammkapital der „Städtischen Handelsbank über. Im gegenzug sollte die Bank laut Vertrag einen neuen Kindergarten bauen. Da aber in den vergangenen Jahren das Defizit der Bank enorm gewachsen war und sie vor dem „Aus“ stand, wurde dieses Projekt nie in Angriff genommen.

Nach einigem Hin und Her ging die Villa im Dezember 2008 für 634 000 Euro wieder in den Besitz der Stadt über. Im März 2009 wur- de die „Städtische Handelsbank“ für bankrott erklärt.

Schon vor anderthalb Jahren hatte die Stadtverwaltung versprochen, den Kindergarten wieder in seinem bisherigen Gebäude unterzubringen. Im Mai 2009 erklärte Alexander Sujew, Chef der Behörde für städtisches Eigentum, daß innerhalb von zwei Jahren in der Villa wieder ein Kindergarten für 89 Kinder entstehen werde. Wieder verging ein Jahr, in dem nichts geschah. Wie sich herausstellte, hatte Sujew wissentlich die Unwahrheit gesagt, denn schon ein halbes Jahr vor seiner Erklärung hatten die Abgeordneten des Kreisrats über den Verkauf des Gebäudes abgestimmt.

Nun ist offensichtlich, daß weder das schöne Gebäude in der Gluck-Straße gegenüber dem Zoo noch das Grundstück im Zentrum für Kinder genutzt wird. J. T.

Quelle: Preußische Allgemeine 04/2011