Drei Jahrzehnte saß ein Wittelsbacher in Athen auf dem
Königsthron. Vor fast 150 Jahren aber taten die Griechen das, wovon
heute viele von ihnen träumen: Sie jagten die Deutschen aus dem Land.
Nur das bayerische Bier blieb
Herbsttage in Athen: Das Kabinett debattiert
ergebnislos über die Tilgung der Lasten aus einem internationalen
Darlehensvertrag, der vor 30 Jahren abgeschlossen wurde. Griechische
Berechnungen ergeben horrende Zinssätze von 56 Prozent. Jeder Minister
meldet Sonderwünsche an. Nach wie vor drängen einflussreiche Familien
auf gut dotierte Staatsposten für "Protektionskinder". Der Druck
ausländischer Mächte nimmt zu. Auch in Italien eskaliert die Situation.
Griechenland 2011? Nein, die Szene beschreibt die letzten Monate des
Jahres 1862. Dennoch wirkt die Situation allzu vertraut, mit einer
Ausnahme: Italien beging damals gerade die Gründung des Nationalstaates
und nicht, wie heute, seine Auflösung. Und noch etwas verbindet den
heißen Herbst 1862 mit dem von heute: Es braut sich ein Aufstand gegen
die Deutschen zusammen. Seit Sommer 2011 gilt Bundeskanzlerin Angela
Merkel auf den Straßen Athens als Unperson. Im Frühjahr 1863 trieb die
Empörung über einen deutschstämmigen Politiker die Griechen gar zum
Aufstand. Wenige Monate später wurde Otto I. (1815-1867), der erste
König des neugriechischen Nationalstaates, aus dem Lande gejagt.
Erste Residenz Ottos I. in Athen |
Aus griechischer Perspektive reduzierte sich
Deutschland vor 150 Jahren auf Bayern. Denn aus dessen Königshaus
stammte Otto. Er war der zweitgeborene Sohn Ludwigs I. von Wittelsbach,
eines leidenschaftlichen Philhellenen, der die griechische Revolution
gegen die Osmanen mit viel Sympathie, Geld und sogar einer
Militärmission unterstützt hatte. Nachdem die Griechen ihren ersten
Präsidenten Kapodistrias erschossen hatten, übertrugen die Schutzmächte
England, Frankreich und Russland dem noch unmündigen Otto die
griechische Krone. Das war 1832. Es folgte ein frühes Experiment
westlicher Entwicklungshilfe in einem von mehr als sieben Jahren Krieg
und Bürgerkrieg verwüsteten Land.
Otto I. im Exil |
Ein Zeitzeuge, der russische Admiral Rikord,
notierte: "Es ist merkwürdig zu sehen, wie die Germanen sich in diesem
Chaos der griechischen Angelegenheiten an das Werk machen, einen
ordentlichen Staat zu schaffen. Nun entsteht die Frage: Ob es ihrer
phlegmatischen Ordnung, ihren langsamen Befehlen und immer verspäteten
Maßregeln gelingen wird, ... Griechenland einem Systeme zu unterwerfen,
dieses Griechenland, dessen einziges System bis jetzt allein der
Revolutionsgeist war?"
Tausende bayerischer Beamter, Soldaten und
Söldner machten sich ans Werk. Ihr Vorbild war dabei eine
absolutistische Erziehungsdiktatur im Sinne von Zar Peter dem Großen.
Ihr wichtigstes Feindbild waren weite Teile dessen, was die Revolution
als griechische Nation geformt hatte und sich auf keinen gemeinsamen
Nenner bringen ließ: reiche Auslandsgriechen etwa, die seit
Jahrhunderten in Paris, Wien oder Odessa ansässig waren; die sogenannten
Phanarioten, die um den Sitz des Patriarchen in Istanbul wohnten und im
Grunde Juniorpartner der Osmanen gewesen waren; Großgrundbesitzer und
Warlords, die einander oft nur in Blutrache verbunden waren; global
denkende Reeder von den Inseln; charismatische Räuberhäuptlinge und ihr
wettergegerbter Anhang; und schließlich eine analphabetische
Bevölkerung, die in diesem Hexenkessel ihre Beschützer suchte. Um das
Maß vollzumachen, leiteten die Gesandten der drei beteiligten Großmächte
auch noch regelrechte Parteien an.
Innerhalb von zwei Jahren bauten die drei Vormünder
Ottos - denn bis zu dessen Volljährigkeit Mitte 1835 sollte sein Staat
ja fertig sein - eine Verwaltung, ein Schulwesen, ein Rechtssystem, eine
Armee, eine Staatskirche, eine Finanzverwaltung auf, verlegten die
Hauptstadt von Nafplion nach Athen und richteten sogar ein
Übersetzungsbüro mit drei Dolmetschern ein, die die Kommunikation
zwischen dem Volk und den Behörden zu gewährleisten hatten, deren
Amtssprache die Katharevousa war, eine in Paris geschaffene, am
klassischen Griechisch angelehnte Kunstsprache. Die erwähnte Anleihe
über 40 Millionen Francs schmolz ebenso schnell dahin wie das Vertrauen
der Bevölkerung in die "Bavarokratia". Der erste Aufstand gegen Otto
datiert vom Sommer 1834. Er sollte nicht der letzte sein.
Das lag auf der Hand. Schließlich gab es noch
Zehntausende Guerillakrieger der Revolution, die sich um den Lohn ihres
Kampfes gebracht sahen. Und darunter verstanden sie keineswegs ein Stück
Land. Um dem Schicksal eines Bauern und seines niedrigen Prestiges zu
entfliehen, waren viele einst in die Berge gegangen. Jetzt forderten sie
Anerkennung, durch Renten oder Posten beim Staat. Vor allem jene, die
sich für Offiziere hielten, und davon gab es Tausende.
Griechische Nationalversammlunt 1844 |
Ottos teure Söldner aus Deutschland hatten gegen
die ortskundigen Guerillas in den Bergen keine Chance und landeten nicht
selten nackt und gebunden in einem Sack, in den man auch noch hungrige
Katzen packte. Es war ja nicht so, dass sich mit der Revolution die
Griechen nach vierhundertjähriger Osmanenherrschaft umgehend in
strahlende Nachfahren eines Aristoteles verwandelt hätten, wie die
Philhellenen in ihren biedermeierlichen Cafés meinten. Als Ottos
Vormünder eine Guillotine einführten, um die Todesstrafe zu
humanisieren, zerschlug das Publikum das teure Gerät. Nicht, weil es für
unmenschlich erachtet worden wäre. Einem Griechen stand das Recht zu,
erschossen zu werden.
Vieles erschwerte das Verhältnis zwischen
Erziehern und Schülern. Die Bayern wurden besser bezahlt, erhielten die
guten Posten, kleideten sich westlich und ernährten sich fremd. Bereits
1835 gab es in Athen drei Brauereien, was zu zahlreichen Schlägereien
"im bayerischen Suff" führte. An die Armee erging der Befehl, die
Kartoffel als Grundnahrungsmittel populär zu machen. Heute kann man sich
eine griechische Taverne ohne Patates und Bira (nach deutschem
Reinheitsgebot) nicht vorstellen.
Damals sahen die Griechen das anders. Die
Guerilla-Offiziere erzwangen schließlich ihre Einstellung in eine
"Eliten-Phalanx". Sie ruinierte den Staatshaushalt endgültig und schuf
durch Tausende unzufriedene Revolutionssoldaten ein Reservoir für
militärische Abenteuer.
Bierbrauerei Fix in Griechenland |
Die lagen in der Regel jenseits der
Landesgrenzen, welche die Großmächte 1832 eng genug gefasst hatten.
Gerade bis zur Linie Arta-Volos reichte Ottos Herrschaft, das Gros der
Griechen lebte jenseits. So führten die nun arbeitslosen Krieger einen
Guerillakrieg im Norden, um die "megali idea", die große Idee der
Griechen, zu verwirklichen: ein Großreich mit der alten byzantinischen
Hauptstadt Konstantinopel. Weil diese nationale Aufgabe durch Ottos
Regierung aber nicht standesgemäß unterstützt werden konnte - weil
wieder einmal ein Staatsbankrott drohte, die Großmächte intervenierten
oder sich die Türken als die Stärkeren erwiesen -, fanden die Griechen
in ihrem König ein weiteres Feindbild. 1843/44 beendete eine Revolution
dessen absolutistisches Regime, 1862 eine andere seine Herrschaft.
Auch damals prägten Korruption, Patronage, marode
Staatsfinanzen, aufgeblähte Verwaltungen und eine exorbitante Armee
(bei 10 000 Mann verfügte sie über 1000 Offiziere und 70 Generäle) sowie
Parteienhader bis zum Bürgerkrieg Griechenlands Bild - und Großmächte,
die sich stritten, wer das Land zu neuer Blüte führen solle. Ämter
galten nicht als Dienst am Staat, sondern als "Anteil am öffentlichen
Einkommen", wie ein Beobachter bemerkte: "Jedes Amt soll zur reichen
Quelle des Gewinns werden."
Otto, 1862 gerade einmal 47 Jahre alt, und seine
Frau Amalie waren kinderlos geblieben. Sie versprachen keine Erhöhung
der Einnahmen, aus denen sich neue Pfründen generieren ließen.
Spätestens als England und Frankreich verhinderten, dass Griechenland im
Krimkrieg 1853 gegen die Türken an der Seite Russlands zu Felde zog,
stand sein Königtum auf tönernen Füßen. Immer weniger konnte er den
Unmut seiner Untertanen gegen den osmanischen Erbfeind ableiten. Der
patriotische Enthusiasmus wurde zu "Champagner, aus dem die Kohlensäure
verrauscht ist", schrieb ein Zeitzeuge. Die verkaterten Griechen rächten
sich bitter an ihrem König.
Manche Beobachtungen heute lesen sich wie ein
Déjà-vu: kompromissloser Parteienhader, fremdenfeindliche Töne, konfuses
Herumwursteln und der Staat als Beute, das sind die Bilder, die uns täglich aus Griechenland erreichen. Und Hakenkreuze als neue alte Feindbilder.
Doch wir sollten uns auch erinnern, dass ein
anderer Otto, Rehagel mit Namen, als "Rehakles" nach dem Gewinn der
Fußball-Europameisterschaft 2004 zum neuen hellenischen Nationalheros
erhoben wurde. Zwar scheiterte er 2010. Dafür aber gibt es mit der Marke
"Fix" nach einigen Pleitejahren heute wieder jenes Getränk, mit dem der
bayerische Brauer Johann Karl Fuchs 1864 in Hellas zu einer Fortsetzung
der Herrschaft mit anderen Mitteln ansetzte. Alles in Griechenland ist
schon einmal da gewesen. Auch die Versöhnung in Freundschaft.
München - Fürstengruft in der Theatinerkirche |
Quelle: Welt am Sonntag
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