Donnerstag, 31. Mai 2012

Der Brünner Todesmarsch vor 67 Jahren

Höhepunkt der »wilden Vertreibungen«

Vor 67 Jahren begann der Brünner Todesmarsch – Schlimmstes Nachkriegsverbrechen bis »Srebrenica«

Der Brünner Todesmarsch, der am 31. Mai 1945 begann, gilt als das schlimmste Verbrechen in Europa zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Massaker von Srebrenica 1995. Rund 27000 Deutsche aus der mährischen Hauptstadt wurden in einem Gewaltmarsch nach Niederösterreich ausgetrieben, rund 5200 starben.

„Kurz vor neun Uhr abends marschierten junge Revolutionäre der tschechischen Nationalgarde durch die Straßen und riefen alle deutschen Bürger auf, um neun vor ihren Häusern zu stehen, ein Gepäckstück in jeder Hand, bereit, die Stadt auf immer zu verlassen. Den Frauen blieben zehn Minuten, die Kinder zu wecken, sie anzuziehen, ein paar Habseligkeiten zusammenzupacken und sich auf die Straße zu stellen. Hier mussten sie allen Schmuck, Uhren, Pelze und Geld den Nationalgardisten ausliefern, bis auf den Ehering; dann wurden sie mit vorgehaltenen Gewehren in Marsch gesetzt, der österreichischen Grenze entgegen.


Es war stockfinster, als sie die Grenze erreichten; die Kinder weinten, die Frauen stolperten vorwärts. Die tschechischen Grenz­wachen drängten sie über die Grenze den österreichischen Grenzwachen entgegen. Da kam es zu neuer Verwirrung. Die Österreicher weigerten sich, die Leute aufzunehmen, die Tschechen, sie wieder ins Land zu lassen. Sie wurden für die Nacht auf ein offenes Feld getrieben. Am nächsten Morgen erschienen ein paar Rumänen als Wache. Sie sind immer noch auf diesem Feld, das zum Konzentrationslager geworden ist. Sie haben nur zu essen, was ihnen die Wachen gelegentlich bringen. Rationen erhalten sie nicht … Jetzt wütet eine Typhusepidemie unter ihnen, und es heißt, dass täglich 100 sterben. 25000 Männer, Frauen und Kinder haben diesen Gewaltmarsch aus Brünn mitgemacht, darunter eine Engländerin, die mit einem Nazi verheiratet ist, eine Österreicherin von 70 Jahren, eine 86-jährige Italienerin.“
Mit diesem Bericht informierte die britische Journalistin Rhona Churchill bereits in der „Daily Mail“ vom 6. August 1945 die Öffentlichkeit der Siegermächte. Was in dem Bericht noch fehlt, ist das Ende der Aktion: Nach längerem Zögern wurde im Juni 1945 die Grenze zum damals sowjetisch besetzten Niederösterreich dann doch noch geöffnet. Viele starben allerdings noch auf dem weiteren Weg bis nach Wien an Krankheiten. Nachdem jahrzehntelang die Zahl der Teilnehmer und Opfer des Todesmarsches unklar war, erlauben neuere Forschungen ziemlich präzise Angaben: 27000 Menschen mussten den Marsch antreten, rund 5200 überlebten ihn nicht. Die seit dem hohen Mittelalter bis 1918 mehrheitlich deutsche Stadt Brünn verlor ihre deutsche Prägung.


Der Brünner Todesmarsch stellt einen Höhepunkt der sogenannten wilden Vertreibungen vor der Potsdamer Konferenz der alliierten Siegermächte Ende Juli 1945 dar. Der Begriff „wilde Vertreibungen“ ist etwas problematisch, weil er auch so verstanden werden kann, dass diese Aktionen unkoordiniert gewesen seien – ein Missverständnis, dem tschechoslowakische und tschechische Regierungen spätestens seit dem Jahre 1948 nur zu gerne Vorschub geleistet haben. Tatsächlich waren auch diese Aktionen fast ausnahmslos bestens organisiert und von der Staatsspitze in Prag, wenn nicht direkt angeordnet, so doch gerne unterstützt. Zahlreiche Aufrufe der damaligen Verantwortlichen in aller Öffentlichkeit sprechen eine eindeutige Sprache. Kein anderer als Staatspräsident Edvard Benesch forderte am 16. Mai 1945 auf dem Altstädter Ring in Prag die kompromisslose „Liquidierung der Deutschen“.

Ohne Wissen und Wollen hoher Regierungsstellen und der anwesenden sowjetischen Besatzungsmacht wären die „wilden Vertreibungen“ ohnehin nicht möglich gewesen. Dies zeigt auch die Lage im von US-Truppen eroberten Westböhmen, wo es keine einzige dieser Aktionen gab.

Im Falle des Brünner Todesmarsches lässt sich die maßgebliche Verstrickung der Staatsspitze besonders gut belegen. Das vorwiegend von tschechischen Arbeitern der „Brünner Waffenwerke“ durchgeführte Verbrechen wurde maßgeblich von einem tschechischen Hauptmann („Stabskapitän“) namens Bedřich Pokorný organisiert. Der Geheimdienstoffizier der Zwischenkriegstschechoslowakei, der in der Protektoratszeit als Gestapo-Spitzel tätig gewesen sein soll, hat nach der Wiederherstellung der ČSR seine Tätigkeit fortgesetzt. Nach dem Sieg der Roten Armee wurde er in die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) und zudem in das „Korps der nationalen Sicherheit“ (Sbor národní bezpecnosti, SNB) aufgenommen.

Nicht einmal zwei Wochen vor dem Brünner Todesmarsch, am 18. Mai 1945, erhielt er das Kommando des SNB in Mähren und war als solcher unmittelbar für die Vertreibung der Brünner Deutschen verantwortlich. Einen Monat nach der Tat, am 2. Juli 1945, wurde er auf persönliche Weisung des kommunistischen Innenministers Václav Nosek in die Spitze von dessen Inlandsgeheimdienst „Obranné zpravodajství“ (OBZ) gerufen. Nachdem Pokorný zuvor nur faktisch den Dienst geleitet hatte, übernahm der vormalige Stellvertreter am 15. Januar 1946 auch offiziell die Leitung des OBZ, welcher bei der kommunistischen Gleichschaltung der ČSR eine unrühmliche Bedeutung gewinnen sollte.
Zuvor organisierte er im Juli 1945 aus dem Prager Innenministerium heraus das Massaker von Aussig am 31. Juli. Dieses Verbrechen forderte zwar weit weniger Tote, war aber in der Durchführung besonders grausam: Teilweise wurden Kinderwagen von einer Aussiger Elbbrücke gestoßen und anschließend mit MG beschossen. 

Das Massaker von Aussig nimmt auch deswegen eine Sonderstellung ein, weil die tschechoslowakische Regierung am 16. Juli, dem Vortag des Beginns der Potsdamer Konferenz, zunächst die öffentlichen Massaker aussetzte. „Aussig“ war insofern auch vom Termin her eine Ausnahme. Wegen des Tatablaufs war schon seit jeher klar, dass das dortige Massaker staatlich organisiert war, doch erst seit den 1990er Jahren weiß man, dass ein und der selbe Mann – eben Bedřich Pokorný – bei beiden Verbrechen die Fäden zog. Infolge interner Flügelkämpfe und Intrigen verbrachte er trotz seiner „Verdienste“ bei der Vertreibung der Sudetendeutschen die Jahre 1953 bis 1958 in tschechoslowakischer Haft, doch später wurde er mit Entschädigung und neuen Ämtern rehabilitiert. Am 31. März 1968, auf dem Höhepunkt des Prager Frühlings, wurde der inzwischen 64-Jährige bei Brünn erhängt aufgefunden – ob er von eigener Hand starb oder ermordet wurde, ist unklar.     

M.R./K.B.




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