Mittwoch, 16. Februar 2011

Geschichte der Deutschen Straße in Tilsit

Deutsche Straße mit Ordenskirche
Die Deutsche Straße war die älteste und breiteste Straße (35 m) unserer Heimatstadt. Noch ehe Tilsit 1552 das Stadrecht erhielt, gab es schon die „Deutsche Gasse", die parallel zur Memel lief und von der Ordensburg, die östlich der Deutschen Kirche am Memelufer lag, nach Splitter führte, wo auch eine Ordensbefestigung lag. Wir lernten in Heimatkunde, daß Tilsit von den Ordensrittern in Kreuzform angelegt worden war und daß die Deutsche Straße und die Packhofstraße dieses Kreuz bildeten.

Noch bis ins 19. Jahrhundert war die Deutsche Straße die unbestrittene Hauptstraße. Hier lagen auch die ersten zwölf Krüge, die ältesten Häuser, historisch berühmte Gebäude und schließlich die Wahrzeichen unserer Stadt: die Luisenbrücke (am Rande), die Deutschordenskirche und das Rathaus. Einen besonders schönen Gesamteindruck der Deutschen Straße hatte man vom Kirchturm der Deutschordenskirche. Umsäumt von grünen Bäumen (es waren wohl Linden?) schwang sie sich in leichtem Bogen, dem Verlauf des Stromes folgend nach Westen.

Im Vergleich zu der eleganten, verkehrsreichen Hohen Straße, die schmaler (21 m), aber belebter war, wirkte die Deutsche Straße ruhiger, behäbiger, verträumter und ländlicher, denn hier sah man an Markttagen viel mehr Bauernwagen, weil es hier ja auch mehr Krüge und Ausspannmöglichkeiten gab als in den anderen Straßen. Aber einmal im Jahr erwachte sie zu pulsierendem Leben und wurde zum Anziehungspunkt der ganzen Stadt. Das war im September zur Jahrmarktszeit. Nun war sie wieder die Hauptstraße, die mit ihren Jahrmarktsbuden eine bunte Ladenstraße bildete, in der wir stundenlang unterwegs waren, um alle Herrlichkeiten zu bestaunen, die dort angeboten wurden von Kleidung, Hausrat, Spielwaren bis zu Fischspezialitäten, Gebäck und Süßigkeiten und nicht zu vergessen den „Spitzen-jakob" und die anderen „Schmeiß-wegs" mit ihren drolligen Redensarten.

Doch begleiten Sie mich nun auf einem Spaziergang durch die Deutsche Straße, wie sie zu unserer Zeit war und wie wir sie kannten und liebten. Um meinem schwachen Gedächtnis aufzuhelfen, habe ich „das Häuserbuch der Stadt Tilsit" von Horst Kenkel, das Heimatbuch Tilsit-Ragnit und das „Einwohnerbuch der Stadt Tilsit von 1939" durchforscht. Außerdem habe ich einige alte Tilsiter befragt, um eine möglichst wahrheitsgetreue Schilderung zu geben.

Wir beginnen unseren Rundgang auf der Memelseite an der Deutschordenskirche, die früher „Deutsche Kirche", „Stadtkirche" oder auch „Alte Kirche" genannt wurde. Schon um 1538 wurde an jener Stelle eine deutsch-evangelische Kirche erwähnt, die aus Holz gebaut noch aus katholischer Zeit stammte. 1610 wurde eine neue Kirche errichtet und 1702 ein massiver Turm angebaut, der mit seinem barocken Kuppelhelm, auf acht Eichenkugeln ruhend, schon einen Napoleon (1807) begeisterte und bis in unsere Tage erhalten geblieben wäre, wenn nicht einige Jahre nach dem 2. Weltkrieg die Sowjets dieses herrliche Bauwerk mit Gewalt niedergerissen hätten. Heute finden wir an Stelle dieses „Wahrzeichens unserer Stadt" einen Parkplatz für Fahrzeuge.

Neben der Deutschordenskirche erstreckte sich ein Hof mit mehreren alten Schulgebäuden. Hier war 1586 eine „Lateinschule" gegründet worden, die später den Namen „Gymnasium" erhielt. Nach einem Brand (1824) wurden das Gymnasium 1829 neu errichtet mit einer Aula, acht Klassenzimmern und weiteren Diensträumen.

1900 wurden das neue „Gymnasium" in der späteren Oberst-Hoffmann-Straße eingeweiht und die Räume des alten Gymnasiums an die Kirchengemeinde verkauft. Hier wohnten die Pfarrer der Kirche. In den alten Klassenräumen haben wir Konfirmandenunterricht gehabt und im Gemeindesaal an festlichen Veranstaltungen teilgenommen.

Im Nachbarhaus lag still und bescheiden eine kleine christliche Buchhandlung und bei ihrer genau so bescheidenen, freundlichen Inhaberin, Lydia Szage, einer Verwandten von uns, konnte man alles haben, was ein Christenmensch brauchte: Bibeln, Gesangbücher, „Vergißmeinnichtbüchlein" usw. Meine kleine Bibel, die ich dort erstand, habe ich heute noch.

Im Parterre gab's noch die Möbelhandlung von Helene Möbius und den Fahrradladen von Otto Jonat. Es muß eines der ansehnlichsten Bürgerhäuser unserer Stadt gewesen sein, denn Zar Alexander von Rußland hatte es sich während der Friedensverhandlungen von 1807 zu seinem Quartier erkoren.

Wir überqueren die Packhofstraße und lesen an dem stattlichen Eckhaus der Deutschen Straße 4 Paul Krieger. Hier erhielt man Eisenwa- ren aller Art, Armaturen, Baumaterialien und Brennmaterial. Das Haus hatte herrliche, große Räume. Wir konnten hier ungestört mit unseren Vettern und Kusinen spielen, wenn wir bei Tante Emmchen Lauzemis zu Besuch waren; dem Eisenladen unter uns machte das nichts aus.

Auch noch andere Geschäfte und Betriebe hatten in diesem großen Hause Platz: Das Manufaktur-Geschäft von Otto Rudolph, die Möbel- handlung von Paul Mielenz, der Zigarrenladen von Anny Ruß, die Werkstätte des Schuhmachermeisters Ernst Kurras und das Steuer- beratungsbüro von Anna Scheer und auf dem Nachbargrundstück der Kurzwarenladen von Franz Simmat, sowie die Gastwirtschaft von Al- bert Barutzki.

Ja, wenn wir an Gaststätten oder Bier- und Weinstuben denken, so werden Sie staunen, daß es 1939 in Tilsit 85 und allein in der Deutschen Straße 12 solcher Lokale gab, abgesehen von Vergnügungslokalen und Ausschank in Kolonialwarenläden. An Markttagen und auch abends genossen die Tilsiter gern in geselliger Runde einen guten Tropfen. Das war so bei Sommer, einer bekannten Weinhandlung, Deutsche Str. 6, deren Inhaber, Martin Sommer vielen bekannt sein wird als Mitarbeiter in der Bundesgeschäftsstelle der Landsmannschaft Ostpreußen (30 Jahre in Hamburg). Ebenso beliebt war daneben das Weinlokal Adolph Sanio.

Auf der anderen Seite der Bäckergasse erhebt sich würdig unser Rathaus. 1565 wurde hier das erste Rathaus, ein Fachwerkbau mit unverputzten Ziegeln errichtet, das man 1752 wegen Baufälligkeit abriß.
Deutsche Straße mit Rathaus. Rechts das Haus des Weinrestaurants Adolph Sanio.
Foto: W. Hubatsch

Der Neubau wurde 1755 durch Karl Ludwig Bergius vollendet. In seiner schlichten Form mit dem kunstvoll geschwungenen Dach und dem kleinen Glockenturm war es das dritte Wahrzeichen unserer Stadt, das leider auch zerstört worden ist.

Wir werfen einen Blick in die Fischgasse. Was herrschte hier an Markttagen für ein geschäftiges Leben und Treiben. Dort hatten die Fischer aus Tilsit und der Memelniederung ihre Verkaufsstände aufgebaut und boten ihre Fische in der so vertrauten heimatlichen Mundart an: „Ei Madamche, schene Aale, auch Hechte goldfrisch!" Nie wieder habe ich solche herrlichen Zander und Quappen gesehen wie dort. Zu schade, daß man von diesem Idyll keinen Tonfilm hat!

Wir wandern nun an der Gaststätte von Oskar Mehlmann vorbei, erfreuen uns an den Uhren und Schmucksachen des Juweliergeschäfts von Emil Dammasch oder probieren einen flotten Hut bei Berta Gettner. Auch eine Kartoffelhandlung von Gertrud Profrok ist im Haus und vor allem das bekannte Fremdenheim: Auguste Rohloff. Früher war hier die berühmte Konditorei von Decomin, die Sundermann in seinen Jugenderinnerungen so begeistert schildert. Doch nun zur Buchdruckerei Otto Fülleborn, die mit ihrem Papiergroßhandel zu einem wichtigen Gewerbebetrieb unserer Stadt gehörte. Im Nachbarhaus, Nr. 12, wurde sogar 1816 die erste Tilsiter Zeitung von Johann Heinrich Post gedruckt. Sonst gab es in diesem Hause die verschiedensten handwerklichen Betriebe: die Wäscherei und Plätterei von Ella Krebs, den Schuhmacher Ernst Grigoleit, den Herrenschneider Eduard Länder, den Dekorateur Max Ruhnau, die Lederhandlung von Waldemar Knocks, die Altmöbelhandlung von Thea Lemke, Altmaterialien bei Arnold und August Launert und die Kartoffelhandlung von Ewald Gutzeit.

Und nun verweilen wir bei einem unserer schönsten Hotels, dem „Kaiserhof" (Nr. 13), dessen Inhaber Ernst Pohland es verstand, seinen Gästen ostpreußische Behaglichkeit und eine gute ostpreußische Küche zu bieten. — Wer für seine Töchter Betten zur Aussteuer brauchte, konnte sie in großer Auswahl bei Fritz Broßeit finden, im selben Haus, Nr. 14, war auch das Fahrradgeschäft von Ella Lorenscheit und die Weinhandlung mit Tabak und Konfitüren von Fritz Matschuck.
 
Doch nun wollen wir die Wasserstraße überqueren, denn dort lag ein besonderer Anziehungspunkt, der vor allem die Hausfrauen dazu bewog, nach einem anstrengenden Einkaufstag eine kleine Pause einzulegen, oder auch junge Mädchen einfach dazu verlockte, nach einem kleinen Stadtbummel zu zweit hier einen reizvollen Abstecher zu machen. Sie merken schon, daß ich die Konditorei Winter meine! Jeder kannte und liebte sie, und manche nette Erinnerung wird sich an dieses beliebte Cafe knüpfen.

Das Nachbarhaus (Nr. 17) hieß mit dem Grundstück Memelstr. 16 das Pauperhaus (Armenhaus), das so genannt wurde, weil 1698 das Ehepaar Georg Falk es sechs bedürftigen, für das Studium begabten Schülern gestiftet hatte, die dort umsonst in Pension waren. Im Pauperhaus war auch die Adlerapotheke (seit 1824) und die Praxis von Dr. Reinhold Pachur, (dem Facharzt für Haut und Harnleiden), die Spirituosengroßhandlung A. Mendthal, die Färberei Heinz Stanzick und der Friseur Paul Wiedemann.

Auch in Nr. 18 wohnten viele Gewerbetreibende. An die Bäckerei Ziplies erinnert sich wohl mancher. Aber daß es dort noch die Motorradreparaturwerkstätte von Martin Meißis, die Büromaschinen von Bruno Gritzko, Oran-Lampen von Karl Mangelsdorf, einen Zuckergroßhandel von Gertrud Romeika und den Möbeltischler Gustav Kablau gab, werden nur wenige wissen.

In Nr. 19 fiel das Beerdigungsinstitut von Franz Brock ins Auge und die Autovermietung von Johann Grün. Dann gab's da den Kolonialwarenladen von Betty Petereit und das Hutgeschäft: Berta Schäfer für die elegante Dame und den Schneider Erich Oberpichler für den eleganten Herrn.

In Nr. 20 finden wir schon wieder einen Kolonialwarenladen von Fritz Buchholz und den Schneider Otto Rosenfeld, die Buchführungsstelle: Willy Pempeit, den Maler: Felix Horlitz, die Farberei: Emil Jodzuweit und das Radiogeschäft: Hans Lengies.

Nun bleiben wir vor einem Hause stehen, das keiner von uns vergessen haben wird, die Möbelfabrik von August Schmidt & Söhne, Inhaber: Franz Perlebach mit ihren großen Schaufenstern und Möbelangeboten, vor allem aber mit dem imposanten Eingang, der von zwei steinernen, großen Löwen, die dort aufrecht saßen, sozusagen bewacht wurde. So etwas gab's in Tilsit nur einmal und erregte besondere Bewunderung der Kinder.

Wir überschreiten die Sprindgasse, erfreuen uns an dem Blumenschaufenster von Ida Jotzat, an den Auslagen des Juweliergeschäfts Willi Riel und dem neuesten Waschpulver in der Drogerie Broschell. Die Herren kehren inzwischen lieber in der Gastwirtschaft von Georg Braxein ein. In Nr. 23 ist die kleine Möbelhandlung: Max Kassat.

Und nun betrachten wir das berühmte Napoleon-Haus mit den Urnen auf dem Dach, einem weit sichtbaren Kennzeichen (Nr. 24). Dieser klassizistische Bau war eines unserer schönsten Häuser und auch innen großzügig angelegt mit einem wunderbaren Treppenhaus und riesigen Räumen, die durch geöffnete Flügeltüren noch großartiger wirkten. Ich kannte dieses Haus, weil eine Klassenkameradin, Ilse Grunwald, Tochter des späteren Direktors der Aufbauschule in Ragnit, dort lebte.

In diesem historisch bedeutsamen Hause wohnte vom 4.- 6.4.1807 das preußische Königspaar, vom 1.- 15.6. der preußische König und vom 26.6.-9.7.1807 Napoleon. Hier fand auch eine Zusammenkunft mit dem preußischen Königspaar statt.

1939 hatte in diesem Hause Dr. Wolfgang Lengemann seine Arztpraxis. Zeitweilig war auch der Papierwarenladen: Beister, Inhaberin: Kate Krusch, hier und zuletzt ein Blumenladen, sowie das Büro der Tilsiter Rollfunr-Gesellschaft.

Das Haus Nr. 25 war ähnlich gestaltet wie sein berühmtes Nachbarhaus. Dort hatte die Weingroßhandlung Mernati, August Ferdinand Mertins Nachf. von 1884 - 1944 ihren Sitz. Von den ausgedehnten Weinproben in den altdeutschen Kellern kann mancher Weinfreund noch lustige Histörchen erzählen.

Da wir mit Klemms, denen die Firma von 1904 - 38 gehörte, verwandt waren, haben wir festliche Stunden in den herrlichen Räumen verlebt. Im nächsten Haus, Ecke Langgasse, gab's etwas Besonderes, was uns Kindern am Herzen lag. Neben seinem Friseurgeschäft unterhielt Alfred Schüler eine Puppenklinik. Ob in unserer schnellebigen „Weg- werfgesellschaft" noch so ein Gewerbe existiert?

Auf der anderen Seite der Langgasse sehen wir schon von weitem die Sargtischlerei von Otto Kuhn. Auch das Zigarrengeschäft von Egbert Schulz, die Sattlerwerkstatt von Gustav Giebler, die Möbeltischlerei von Marta Zander und der Friseur Erwin Pomplun waren in diesem Hause.
 
Deutsche Straße Nr. 24. Das Haus, in dem Napoleon während des Friedensschlusses 1807 wohnte. Foto: W. Hubatsch

In Nr. 28 können wir uns Fahrräder bei Paul Ehlert ansehen — damals waren sie mehr gefragt als Autos. Es gab 1939 nur 6 Autogeschäfte in Tilsit ...  Schon wieder eine Möbelhandlung? Diesmal von Lotte Zoeller. Daß so viel Möbel gekauft wurden, wo es doch damals noch keinen „Sperrmüll" gab! W ir wandern nun an einer Mehlhandlung, der bekannten Firma Johann Friedrich Bruder vorbei, an der Wäscherei und Heißmangel von Pauline Panke und an der heute so selten gewordenen Werkstatt eines Böttchers, des August Bierenbrodt vorbei, um uns in Mielkes Bierstuben ein wenig auszuruhen . . . Oder gehen wir lieber ins nächste Haus, in die Gaststätte von Ernst Stamm, wo auch der Gas- und W asserinstallateur E. Kreutzer seinen W ohnsitz hat? Oder trinken wir lieber im „Pilsener" ein Tulpchen Bier bei Emil Rimkus?

Diese vielen Gaststätten so dicht nebeneinander verwundern uns immer wieder. Aber wenn man an die langen Herbst- und Winterabende denkt, kann man es wohl verstehen, daß unsere Tilsiter sich nach Geselligkeit und Abwechslung sehnten.

Wir betrachten nun die hübschen Bilder des bekannten Photoateliers Otto Florian, der so nette Familien- und Landschaftsaufnahmen machte, kaufen etwas Obst bei Georg Kaliweit, ein paar Blumen bei Erich Reinhold und möchten uns am liebsten ein Auto für eine Fahrt zum Schloßberg bei August Kochanowski mieten. Ein Auto zu kaufen, wäre den meisten Tilsitern damals nicht im Traum eingefallen.

Dagegen begannen die Elektroinstallateure, die auch Lampengeschäfte hatten, immer häufiger zu werden, hier Eugen Grigoleit, nebenan sogar noch Radioanlagen bei A. Valentini.

Doch ehe wir weitergehen, sollten die Herren nicht versäumen, dem Schneidermeister Eduard Banscher einen Besuch abzustatten und sich bei dieser Gelegenheit seinen kuriosen Papagei anzusehen! Nach diesem kleinen Abstecher wenden wir uns dem Fleischerladen von Ernst Schoeppe zu, der ausgezeichnete Angebote hat, gehen an der Polsterwerkstatt von Walter Vormeyer vorüber und verweilen vorder Bäckerei von Paul Nadzeika mit ihren verlockenden Backwaren. Wir trennen uns, um bei W. Tennigkeit neben den Fahrrädern die neu- esten Motorräder der Firmen NSU, BMW und Triumpf zu bestaunen. Dann geht's am Sargmagazin: Hermann Schmerling vorbei. Bei Marie Zuttmann kaufen wir ein paar Tomaten, geben unsere Schuhe beim Schuhmacher Eduard Zuttmann ab und sind froh, daß wir uns nicht beim Dentisten Gustav Wilma anmelden müssen.

Das Lebensmittelgeschäft Arno Ehleben hat auch gute Angebote. Besonders sehenswert sind aber die Wirtschaftsartikel und Korbwaren von Emma Weiß unter der Treppe des großen schönen Nachbarhauses. Dort bestand bis 1930 die Molkerei von Otto Braun. Mit der netten Christel Braun habe ich als Kind oft dort gespielt. Was mag aus ihr geworden sein?

Auch hier schon wieder eine Bestattungsanstalt der Gebrüder Glietz. In der Deutschen Straße war diese Innung wohl besonders häufig vertreten. Sogar eine dritte Autovermietung, die von Franz Krüger, soll uns wohl endgültig zu einer Fahrt ins Blaue verlocken. Wir sind nun am Deutschen T or angelangt, das innerhalb eines Schutzwalls während der Schwedenzeit erbaut (1679), aber später (1864) wieder abgerissen wurde, überqueren diese breite Straße und wandern auf der linken Seite wieder zurück.

Im ersten Haus (39) auf der linken Seite lag die Firma Georg Kenklies. Dazu gehörten: eine Gastwirtschaft mit Ausspann, eine Kohlenhandlung, eine Kaffeebrennerei und eine Aral-Tankstelle. Von 1924 - 44 war diese Firma in dieser Familie.

Im Nachbarhause bewundern wir die schönen Möbelausstellungen der Möbelfirma Otto Paulin, gegründet 1904 und von 1924 - 44 im Besitze dieser Familie. Zuletzt war Liesbeth Zadeck die Inhaberin, Tochter von Paulin. Dabei denke ich an das tragische Schicksal dieser Familie. Herr Zadeck, Inhaber einer Pianofirma in der Wasserstraße, bei der mein Vater zu seinen Konzerten oft einen Flügel auslieh, war Jude. Seiner Tochter Suse gelang es noch rechtzeitig, sich mit ihrem jüdischen Mann nach Australien abzusetzen. Wo mag die übrige Familie geblieben sein, Peter und Hannehilde, mit denen wir als Kinder gespielt habe. 

Im selben Haus gab's noch das Konfektions- und Hutgeschäft von Albert Waitschies und die Weiß- und Kurzwaren von Käte Krusch. In Nr. 41 lag die Hauptzweigstelle I der Städtischen Sparkasse und das Kolonialwarengeschäft von Heinrich Wischnat. In Nr. 42 war bis 1909 die Vereinsbrauerei gewesen und von 1924 - 44 die Gastwirtschaft Heinrich Budwill. Auch mehrere Handwerksbetriebe hatten sich dort niedergelassen, so die Bauglaserei und Bildereinrahmung E. Böhnke, der Korbmacherladen Gustav Doebler, ein selten gewordenes Handwerk, und der Tapezierer Otto Schattner.
 
An das Konfektionsgeschäft von Fritz Mikat, bei dem uns die freundli- che Ehefrau so nett bediente, erinnere ich mich noch genau, und die Fischhandlung von Kurt Pippis mit den fetten Räucheraalen ist vielen auch noch bekannt, sowie der Tapetenladen von Erich Bildat, die Lackiererei von Louis Baußus, die Sattlerei von Paul Frank und der Stellmacher August Mikat.
 
Das nächste Haus Nr. 51 stand mit seiner schönen Barock-Fassade unter Denkmalschutz. Von 1856—1944 war es im Besitz der Bäckerei Behrendt. Auch die Milchhandlung und das Taschenlampen-Geschäft von Emil Janz waren in diesem Hause. Auf dem großen Grundstück Nr. 52/53 lag ein Autohof mit einer Autoreparatur-Werkstätte von Art- hur Plonus und einer Elektroinstallation von Max Jackstadt, daneben

Wir gehen vorbei an der Gastwirtschaft von Benno Becker, dem Kurzwarenladen von Georg Petzold, der früher Ludzoweit gehörte, an dem bekannten Kolonialwarenladen von Emil Schienther, an der großen Eisenwarenhandlung von Paul Manleitner und bemerken ein kleines Schild: Violinlehrer Bruno Schnabel. Uns fällt das berühmte Schnabel-Streichquartett ein, das öfter im Stadttheater Kammerkonzerte gab. Wir werfen einen Blick in den Blumenladen von Fritz Haese und sehen das große Firmenschild von Paul Struwe: Baustoffe, Eisen und Kohlen. In den Wein- und Bierstuben von Ernst Schnell wollen wir jetzt nicht Station machen, sondern betrachten uns lieber die Auslagen des Textilgeschäftes Franz Lingnau (1924-1944).

Auf der anderen Seite der Langgasse erwartet uns schon das Wollgeschäft: Ferdinand Richter, das den Bleyle-Alleinverkauf von Tilsit hatte. Dort kauften meine Eltern blaue Matrosenanzüge für die 3 Jungen und Strickkleider für die drei Mädchen. Die Stricksachen waren teuer, aber von so guter Qualität, daß sich die Ausgabe lohnte.

Im selben Hause lag auch das Lederwaren- und Papier-Großhandelsgeschäft von Walter Schiemann. So manches Mal habe ich im Schaufenster die schönen Handtaschen, Koffer und Schirme bewundert. Herr Schiemann, den ich neulich bei seiner Tochter Ulla Sonnenberg in Marxen besuchte, hat mir über die Deutsche Straße wichtige Auskünfte gegeben. Er wird jetzt 90 Jahre alt, und wir grüßen ihn herzlich als einen unserer ältesten Tilsiter Bürger.

Und nun zu „EWECO", Ewald, Ewert & Co. Es gibt sicher keinen Tilsiter, der es nicht kannte. Dieses große Geschäft mit seinen vielseitigen Angeboten, das zugleich Drogerie, Farbenhandlung, Lebensmittelgeschäft und Kaffeerösterei war und eine Gast-Stube mit großem Hof für den Ausspann der Bauern hatte. So mancher wird sich an das Wurst-Essen dort erinnern, wenn Ewerts ein Schwein geschlachtet hatten! Und nicht vergessen wollen wir die berühmte Tochter Ulla Ewert, die fünfmal Meisterin im Florett-Fechten von Ost-, Westpreußen und Danzig war und dann den Florett-Fechtmeister Walter Fromm heiratete.

das Seifen-Spezialgeschäft von Frieda Renkewitz, früher Schön und die Geschäftsstelle der Feuersozietät von Tilsit. Im Hause Nr. 54/55 können wir in dem Schuhgeschäft von Schröders und Co., früher Wolf, die modernsten Modelle bewundern oder auch die neueste blitzenden Fahrräder bei Fritz Altmann. Sogar ein zahntechnisches Laboratorium von Hans Arnold gab es hier.
Deutsche Straße Nr. 50. Das Geschäftshaus der Firma Ferdinand Richter Nachf. Dahin- ter das Haus der Bäckerei Behrendt. Foto: Privat

Wir gehen an der Auto-Glaserei von Kuno Seeck vorüber, werfen einen Blick in seine Bilderhandlung und in das Juweliergeschäft von Otto Wagner. Auch ein Gebäude-Reinigungs-Institut von Fritz Schumann gab es in Nr. 56. Wir informieren uns bei Paul Petereit über die aktuelle Hutmode und verweilen ein wenig vor dem Kinder-Paradies, dem Spielwarengeschäft von Rudolf Gohl, das neben Klammer das größte Tilsits war.

Daß soviel Juweliergeschäfte so dicht nebeneinander bestehen konnten? Denn hier stellten Kurt Demand und Willy Schwarz ihren Goldund Silberschmuck zur Schau. Und nun kommen wir zu einem Geschäft, das in seiner Art wohl einzigartig in der Deutschen Straße war: die Musikalienhandlung von Majöwski. Nicht daß wir Tilsiter die Musik nicht liebten, aber Instrumente außer Mundharmonikas und Blockflöten waren auch damals schon teuer, und wir bewunderten die blanken Trompeten, die blitzenden Schiffer-Klaviere, die Gitarren und Geigen, neben denen die Fertigkleidung von Georg Freund natürlich verblaßte.

Das Schuhgeschäft von J. Hardt (Inh. Fritz Stephani) ist Ihnen wohl auch noch in Erinnerung. Mehrere große Betriebe hatten sich auf diesem Grundstück Nr. 60 niedergelassen, so die Bauklempnerei und Zentralheizungen von Otto Gassner, die Bonbon- und Konfitürenfabrik von Kurt Braun, die Vulkanisieranstalt: Richard Kissnat und die Fischhandlung: Franz Wildies.

Doch nun zu den Pelzwaren von Albert Jotzat (Inh. Kurt Borrmann)! Das war eine Pracht, diese herrlichen Pelze: Persianer, Füchse und Nerze! Für uns Jugendliche waren das damals unwirkliche Träume, die nur ältere oder begüterte Leute sich erfüllen konnten.

Im selben Hause gab es noch die Spielwaren und Schneider-Artikel von Th. Lamprecht (Inh. Hoffmann & Boy). Im Fotogeschäft von Gertrud Hakelberg daneben haben wir oft unsere Filme entwickeln lassen. Im Zigarrenladen von Emma Pettokat dagegen war hauptsächlich Herrenkundschaft wie auch in der Werkstätte des Schneiders Titschkus.

Im Eckgebäude zur W asserstraße lud das große T extilgeschäft von: Gebr. Dehler (1938-1944), (früher Max Bräude) zum Einkauf ein. Es war ein modernes Kaufhaus, das sich mit seinen vielen Abteilungen: Konfektion, Stoffen, Wäsche, Bekleidung aller Art, Kurzwaren, wohl mit heutigen Kaufhäusern vergleichen läßt. Auf der anderen Seite der Wasserstraße grüßt der schöne alte Bau von: „Wächters Grüne Apotheke" herüber, deren Inhaber Bernhard Grundmann (1901-1944) und deren Pächter Manfred Vollradt war. Im selben Hause hatte: Friedrich Mitzkat ein Gardinen- Teppich- und Tapetengeschäft. In Nr. 64 war das Weiß-, Woll- und Kurzwarengeschäft von: Scholz & Hinz, das früher Hugo Brinitzer gehörte.

Ebenso bekannt war die große Bekleidungsfirma von Leiner & Wenik, die später nur noch Wilhelm Leiner gehörte und vor allem Herrenbekleidung, Maßschneiderei und Uniformen führte. Ganz bescheiden nahmen sich dagegen das Hut- und Putzgeschäft von Meta Beßon und die „Diakonissenstation" aus.

Doch nun zu Wiemers Lederwaren, wo es auch Seiler- und Schiffahrtsartikel gab, von 1884-1944 im Besitz dieser Familie. Im nächsten Schaufenster können wir die Pelzwaren und Herrenstoffe von: Carl Eisenberg betrachten. Und wenn man einen Fuhrhalter brauchte, konnte man sich an Wilhelm Kryßon wenden, der hier in Nr. 66 wohnte.
 
Und nun zu Kaisers Kaffee-Geschäft! Wer kennt es nicht mit seinem stets frisch gerösteten Kaffee aus eigener Brennerei, das 1944 noch Thams & Garfs übernahm? Und wem ist das Manufakturgeschäft von Carl Theisen noch ein Begriff? Ich besitze noch einen Kleider-Bügel mit seinem Namen, der die Flucht überstanden hat.
 
Wir sind am Schenkendorfplatz angelangt und bewundern das berühmte dreistöckige Eckhaus, Nr. 68, das sogenannte „Blaurocksche Haus" mit seinem herrlichen Barockgiebel zum Marktplatz. Es war das Zweitälteste Privathaus der Stadt, erhielt 1694 das Apothekenprivileg, das 1700 an Georg Falck vergeben wurde, der das Haus 1705 neu erbaute. Unter seinem Nachfolger, Georg Heinrich ging das Grundstück 1727 in Konkurs und das Apotheken-Privileg war erloschen. Von 1864-1885 war dieses Haus im Besitz der Familie Blaurock und führte seitdem diesen Namen.

Das Eckhaus auf der gegenüberliegenden Seite des Schenkendorfplatzes, Deutsche Straße Nr. 69, war das älteste Haus unserer Stadt, bekannt durch die „Falkenapotheke" und seinen Inhaber Kurt Peters.

Es hatte schon 1552 eine Kruggerechtigkeit und 1694 ein ApothekenPrivileg erhalten. 1695 wurde es neu erbaut und blieb so bis in unsere Tage erhalten. Die Jahreszahl „1571" für das Baujahr ist falsch und kann sich nur auf einige ältere Teile des Hauses beziehen. Von 1719-1744 gehörte das Haus dem Apotheker Dr. med. H. Christian Falck. Vielleicht hat der Apotheker von Prodszinsky es deswegen 1830 „Falkenapotheke" genannt.

In Nr. 70 begegnen wir wieder einem Juweliergeschäft Erich Eckstein und dem Zigarrenladen Max Prange. Der nächste Häuser-Komplex Nr. 71 mit Packhofstr. 4-6 war das „Stadthaus", mit seinen Verwaltungsräumen.
 
Schon von weitem lesen wir auf der anderen Seite der Packhofstraße den Werbe-Slogan „Schau nicht rechts, schau nicht links, Kauf nur bei Raudies und Bugenings!"

Dieses große Konfektionsgeschäft war im Besitz der Familie Raudies von 1907-1944. Auch die Autovermietung Viktor Dzikus befand sich in diesem Grundstück.

Das „Dewitzsche Haus" (in Nr. 74) hatte historische Bedeutung. Wahrscheinlich wurde hier (oder Hohestr. 93, das auch Dewitz gehörte) der Friede zu Tilsit von Napoleon mit Rußland am 7.7.1807 und mit Preußen am 9.7.1807 unterzeichnet. 1939 waren hier ein Holzmeßamt und die Gastwirtschaft: Ewald Grickschat.

W ir sind am Fletcherplatz angelangt und beenden unseren Spaziergang in die Vergangenheit. Um den 18.1.1945 wurde Tilsit von den Russen besetzt. Es war zu 80 % zerstört. Auf der rechten Seite der Deutschen Straße stand fast kein Haus mehr. Heute wissen wir von Augenzeugen, daß die Häuser der Deutschen Straße wieder in neuartigem Stil aufgebaut sind.

Aber die Wahrzeichen der Stadt, die Luisen-Brücke, die Deutschordenskirche und das Rathaus gibt es nicht mehr, und alle die schönen Häuser, Geschäfte und gewerblichen Betriebe, an denen wir vorübergingen, leben nur noch in unserer Erinnerung.

Ursula Meyer-Semlies
Quelle: Tilsiter Rundbrief 9-1979/80


2 Kommentare:

Anna hat gesagt…

Thank you very much for this post. I know a little bit more about my family who lived in the street now :-)

Евгений Колосков hat gesagt…

I was there in early April. Much has been lost, but the city is still great.